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04.05.13 / Wer bin ich – wo komme ich her? / Anne Rekkaro berichtet über ihre Identitätsfindung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-13 vom 04. Mai 2013

Wer bin ich – wo komme ich her?
Anne Rekkaro berichtet über ihre Identitätsfindung

Anne Rekkaro ist für unsere Leser­innen und Leser keine Unbekannte. Seit die Estin in unserer Ostpreußischen Familie nach ihren Wurzeln suchte, die in Königsberg liegen, ist ihr Name immer wieder auf unserer Seite aufgetaucht. Zuletzt, als – mit vielen Schwierigkeiten konfrontierte – Übersetzerin des Buches „Frauen in Königsberg 1945–1948“ ins Estnische. Mit einer der Autorinnen dieses Buches, Frau Hannelore Müller, steht Anne Rekkaro in regem Briefwechsel, aus dem uns Frau Müller mit Frau Rekkaros Einwilligung einige Auszüge überlassen hat, die das Hauptproblem ihres Lebens betreffen: die Identitätsfindung. Denn Anne Rekkaro war nicht nur den Schwierigkeiten ausgesetzt, die wohl alle adoptierten Kinder haben, wenn sie erst im späten Alter von ihrer wahren Herkunft erfahren, sondern auch den Sprachbarrieren beim Entdecken ihrer völlig vergessenen Muttersprache. Diese Spätfindung beschreibt sie in mehreren Briefen mit all den emotionalen Empfindungen so gut, dass man ihr bereits geraten hat: „Du musst selber ein Buch über dein Leben schreiben!“ Was Anne Rekkaro auch tun will, wenn die – nicht immer leichten – Lebensumstände mitspielen. Wir haben aus ihren Briefen jene Stellen herausgesucht, die zur Erschließung ihrer wahren Identität beigetragen haben. Begonnen hatte alles mit einem Brot, das der Estin Selma Avik bei einem Besuch im September 1946 im hungernden Königsberg aus der Tasche ragte. Es zog wie der Rattenfänger von Hameln die bettelnden Kinder an, deren Anblick die mitleidige Frau bewegte, eines dieser kleinen Elendsgeschöpfe in ihre Heimat mitzunehmen, um es vor dem Hungertod zu bewahren. Es war die dreieinhalbjährige Roswitha-Anne Browarzyck, deren leibliche Mutter sich von dem Kind trennte, weil sie ihren nahen Tod fühlte, der dann auch im April 1947 eintrat. Da lebte ihre kleine Tochter schon in Reval (Tallinn) und hatte Heimat und Familie vergessen. Als das Mädchen im Jahr 1951 von Selma Avik adoptiert wurde, weil für die Einschulung Papiere benötigt wurden, ließ man ihr nur den Vornamen Anne, weil der auch in Estland gebräuchlich ist. Als Nachnamen erhielt sie den der Adoptivmutter, die sich für die Behörde eine wahre Legende über die Herkunft des Kindes ausgedacht hatte: Sie hätte das hilflose Kind noch während der Kriegszeit auf einer Straße in Reval gefunden und aufgenommen. Als Adoptivmutter eines „Faschistenkindes“ hätte sie große Schwierigkeiten gehabt. Mit dem Namen wurde auch Annes Geburtsdatum geändert, sie wurde ein Jahr jünger gemacht. Die Estin bewahrte das Geheimnis über Annes Herkunft, bis das Mädchen zehn Jahre alt war. Anne berichtet darüber:

„Ich erfuhr es von einem Nachbarn, der seinen Mund nicht halten konnte. Es geschah auf der kleinen Insel Kassari, wo wir immer alle Sommer verbrachten. Eine Nachbarin aus Tallinn, Melitta, besaß dort ein Sommerhaus. Es waren sehr freundliche Menschen, ich lebte herrlich frei wie ein Naturkind. Dort erfuhr ich, dass ich eigentlich eine Deutsche bin. Ich glaubte das vom ersten Wort an. Auf einmal war mir klar, warum man mich oft so sonderbar ansah, mich anders behandelte als andere Kinder und dass die Menschen tuschelten, wenn sie mich zum ersten Mal sahen. Ich war begeistert von dem, was mir der Nachbar erzählte, der sagte aber, es sei ein Geheimnis, und ich sollte es für mich behalten. Ich meisterte mir aus einem Bogen Papier einen kleinen Notizblock, in den ich alles eintrug, und schrieb darauf ,Mein Geheimnis‘. Als ich wieder in Tallinn bei meiner Pflegemutter war, wagte ich nicht, sie zu befragen, da ich ja eigentlich nichts wissen sollte, und ich wollte sie nicht enttäuschen. Zwei Jahre lebte ich so in großer Spannung. Eines Tages stand ein fremder Mann vor unserer Türe und fragte mich, ob ich dieses kleine deutsche Mädchen sei, das die Pflegemutter aus Deutschland mitgebracht hatte. Erst da erzählte sie mir alles und zeigte mir zwei Zettel, die meine Mutter ihr mitgegeben hatte und auf denen die Namen und Daten unserer Familie vermerkt waren. Sie sind für mich heute eine Reliquie.“

Anne durchlebte nun ein Wechselbad der Gefühle. Sie hatte Sehnsucht nach einem Menschen, der sie lieb hatte, der ihr Geborgenheit gab, die Pflegemutter konnte dies nicht, weil ihr diese Mentalität fremd war. Sie bekam Sehnsucht nach ihren leiblichen Eltern. Als sie einmal ein Flugzeug sah, das über ihr Viertel flog, war sie sicher, dass es ihre Eltern waren, die sie suchten und mitnehmen wollten. Sie lief ihm nach und war enttäuscht, als es verschwand. Damals wusste sie noch nicht, dass ihre Eltern längst verstorben waren. Und dann ist da noch die Geschichte mit der deutschen Sprache, die sie vollkommen vergessen hatte. Anne Rekkaro hat nie Deutschunterricht gehabt, die Sprache ist von selbst zu ihr zurückgekommen, wie sie schreibt. Sie begann zu lesen: zuerst Märchen, kleine Geschichten, dann anspruchsvolle Literatur, sie besitzt heute vorzügliche Deutschkenntnisse, die sie auf ihren Reisen nach Deutschland intensiviert. Die Sprache wurde für sie der Schlüssel zur Heimat. „Nach zwei Tagen in Deutschland kann ich schon richtig plachandern“, schreibt sie. Und wir können nur hoffen, dass sie dies auch in ihrer eigenen Biografie verwirklichen wird, in die wir hier einen kleinen Einblick gewonnen haben. R.G.


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