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18.05.13 / Politik schafft Hartz-IV-Ghettos / Jobcenter zwingt arme Berliner zum Umzug und verschärft damit soziale Brennpunkte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-13 vom 18. Mai 2013

Politik schafft Hartz-IV-Ghettos
Jobcenter zwingt arme Berliner zum Umzug und verschärft damit soziale Brennpunkte

Wenn Berlin für Hartz-IV-Empfänger zu hohe Mieten zahlen muss, werden diese oft zum Umzug in günstigere Bleiben gezwungen. Dies aber schafft zusehends neue Ghettos, eine explosive Lage entsteht.

Wie Arbeitsamt und Sozialindustrie in Berlin an der Schaffung neuer Elendsviertel mitwirken, nahm jetzt Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) vor Ort unfreiwillig in Augenschein. Bei einem Besuch in Spandau beobachtete der Senator zwar abnehmenden Leerstand. Gleichzeitg zeigten sich dem Senator aber auch die missliebigen Folgen der vom Jobcenter erzwungenen Umsiedlung ärmerer Bürger: Eine neue Ghettoisierung kündigt sich an.

612 Berliner Haushalte, die Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen, muss­ten 2012 innerhalb der Metropole umziehen. Das Jobcenter ordnete den unfreiwilligen Umzug meist an, weil die Mietkosten der Leistungsbezieher zu sehr stiegen. Wie hoch diese Miete jeweils sein darf, regelt in Berlin seit Mai vergangenen Jahres die Wohnungsaufwendungsverordnung (WAV) des rot-schwarzen Senats.

Grund der Neuregelung durch Senator Mario Czaja (CDU) war eine Welle von Gerichtsprozessen, die besonders Berlin als „Hauptstadt von Hartz-IV“ betraf: Die Menschen klagten vor Sozialgerichten wegen amtlich verordneter Umzüge. In den Streitfällen um Nebenkosten, Mietanstiege und Raumgrößen trieben Gerichte jüngst den Senat regelrecht vor sich her. Berlins Politik geht der Überblick verloren, wie sich die Wohnlage der Empfänger von Hartz IV noch gerecht ermitteln lässt. Im angespannten Wohnungsmarkt der Metropole ist das längst keine Nischenfrage mehr, beträgt doch der Anteil dieser Gruppe an der Berliner Bevölkerung bereits mehr als 16 Prozent. In einem Urteil Ende April warf das Landessozialgericht dem Senat indirekt sogar eine Quersubventionierung überteuerter Nettokaltmieten vor. Das Gericht kippte damit regelrecht die WAV, weil der Senat diese neuen Grenzen vor allem am Missbrauch, aber nicht an nachvollziehbaren Sätzen festmacht. Doch der Senat beharrt bis zu einem höchstinstanzlichen Urteil auf seinem Kurs.

Die vielen angeordneten Umzüge provozieren indes massive neue Strukturprobleme, denn in den vergangenen Jahren war das Niveau der erzwungenen Umzüge bereits hoch: Allein 2011 mussten 1337 Berliner Haushalte den Wohnort wechseln. Im Spandauer Kiez Heerstraße-Nord hagelten jetzt bei einem Ortstermin die neuen Spannungen auf Stadtentwick­lungssenator Müller nieder: Quartiersmanager und Kommunalpolitiker sprachen von verwahrlosten Kindern und Familien sowie dem leidenden Ruf der Großsiedlung, in der rund 17000 Menschen leben.

Dringend benötigte Erzieher wollen angebotene Stellen nicht mehr antreten, heißt es. „Kamen früher zwei Problemfamilien auf ein Haus, sind es heute zwei unproblematische“, fasst Stadtrat Carsten Röding (CDU) den sozialen Absturz des Viertels zusammen.

Welche Folgen die Ballung der Abgedrängten auf die Stadtentwicklung und den sozialen Frieden hat, ist der Politik aber noch weitgehend unbekannt – das zeigte der Termin. Nicht die Wohnsituation im „schlimmsten Stadtteil des Bezirks“, so Röding, sondern ein Angriff Jugendlicher auf einen behinderten Jungen im Februar bot den Anlass des Besuchs. Das Bezirksamt schaltete damals ein Sorgentelefon frei. „Die zahlreichen Rückmeldungen zeigen bereits jetzt, dass sich viele Menschen im Quartier Heerstraße-Nord nicht mehr sicher fühlen“, ließ der Bezirk die Presse wissen. „Körperliche Gewalt, Bedrohungen, Sachbeschädigungen“ sind laut den Bürgeranrufen an der Tagesordnung. Die Beseitigung von Gefahrenstellen ist erschwert, da mehrere Eigner dem Quartiersmanagement gegenüberstehen, wie der Ortstermin nun ergab. Er zeigte auch, wie sich die Struktur verändert: Lag der Leerstand lange bei 20 Prozent, ist er auf fast null gefallen.

Mit jedem Einzug steigen in der Regel selbst niedrige Mieten. Die Behörden wirken so an den Mietsteigerungen in dem bislang günstigen Kiez selber mit, indem sie immer mehr Menschen zum Umzug dorthin nötigen. Ironie des Schicksals: Gerade der Verteuerung billiger Wohungen und Verdränung armer Menschen wollte der Senat mit der WAV entgegenwirken. „Die neu festgelegten Sätze liegen im Schnitt um zirka fünf Prozent über den alten. Es ist daher sicher, dass jetzt weniger Bedarfsgemeinschaften (BG) als unmittelbar vor dem Erlass der WAV eine Miete zahlen müssen, die über den Obergrenzen liegt“, so eine Studie des Berliner Mietervereins.

Dennoch zahlen laut Mieterverein immer noch 70000 Haushalte eine Miete oberhalb der neuen WAV-Grenze, sind also potenziell von Zwangsumzug bedroht. Auch sei die Überbelegung der Hartz-IV-Haushalte weiter groß, selbst dort, wo neue Obergrenzen überschritten würden. Größer noch als Stress und Spannungen durch Überbelegung ist demnach das Problem, überhaupt eine Bleibe selbst zu den neuen, etwas höher angesetzten Kosten zu bekommen. Da die „Zugänglichkeit zu Wohnungen zu Mietpreisen, die den Berechnungen der WAV zu Grunde gelegt worden sind, faktisch nicht gegeben“ sei, wie Stichproben im Rahmen dieser Untersuchung ergeben hätten, bleibe nur der Umzug in Gegenden, in denen kaum jemand wohnen wolle. Um speziell diesen Leerstand zu füllen, seien Transferempfänger allerdings die denkbar ungünstigste Gruppe im Sinne der Stadtentwicklung. Sverre Gutschmidt


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