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25.05.13 / Auch eine moralische Frage / US-Philosoph nennt Folgen der wachsenden Kommerzialisierung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 21-13 vom 25. Mai 2013

Auch eine moralische Frage
US-Philosoph nennt Folgen der wachsenden Kommerzialisierung

Harvard-Professor Michael J. Sandel regt auch mit seinem neuen Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes“ massiv zum Nachdenken an. Nicht nur seine philosophischen Vorlesungen, über die die PAZ schon vor einiger Zeit berichtete, auch sein Buch ist gespickt mit Beispielen aus dem Alltagsleben, die im Grunde jeder kennt und die man zumeist einfach hinnimmt. Doch dem politische Philosoph Sandel gelingt es immer wieder, dass seine Zuhörer wie Leser innehalten und sich fragen, ob alles, so wie es jetzt ist, eigentlich richtig, vor allem moralisch korrekt ist.

So fragt er, ob es richtig ist, wenn Fluggäste der ersten Klasse die langen Schlangen vor den Sicherheitsüberprüfungen überspringen dürfen, nur weil sie mehr bezahlt haben. Und ist es vertretbar, wenn in den USA Lobbyisten Obdachlose dafür bezahlen, dass diese sich vor dem US-Kongress für sie in eine Warteschlange stellen, für jede Stunde Stehen bezahlt werden und dann kurz vor dem Einlass ihren Platz an den Lobbyisten abtreten? Bei vielen der Beispiele stutzt der Leser, und oft weiß er selber nicht, ob er diese Art der in den letzten Jahren zugenommenen Kommerzialisierung für richtig oder falsch befindet. Sandel selbst fällt selten ein Urteil. Er nennt überwiegend nur Pro und Contra und weist darauf hin, dass es ihn erschreckt, dass nirgendwo in der Gesellschaft die Debatte geführt wird, ob wir, in Deutschland genauso wie in den USA, die derzeitige Entwicklung von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft wirklich gutheißen und mittragen. Mit der Marktgesellschaft meint der Autor, dass fast alles und fast jeder inzwischen einen Preis hat. Auch sorge die Kommerzialisierung der Gesellschaft dafür, dass die Ungleichheit zwischen Armen und Reichen zunehme, denn die Reichen könnten schließlich auch die neuen Preise bezahlen.

Aber wo sind die moralischen Grenzen? Grundsätzlich habe kein Bürger ein Problem damit, wenn ein Versandhändler gegen Aufpreis eine Übernachtlieferung anbietet, wenn Privatpatienten jedoch sofort zum Arzt vorgelassen werden, während gesetzlich Versicherte Stunden im Wartezimmer warten müssen, ärgert das schon so manchen. Sandel nennt zahlreiche Beispiele aus den USA, wo man immer mehr mit Geld die Warteschlange umgehen kann, und sorgt dafür, dass man als Deutscher, der in einem Land lebt, wo die Kommerzialisierung noch nicht so stark vorangeschritten ist, keineswegs neidisch über den Ozean blickt. Das ist doch nicht gerecht, dürfte selbst der marktwirtschaftlichste Deutsche so manches Mal ausrufen.

Sandel fragt auch, wo die Grenze liegt, um Anreize in Form von einer Belohnung zu schaffen. Im Kleinen kennt jeder das Beispiel, dass Eltern ihren Kindern Geld dafür versprechen, wenn sie ein gutes Zeugnis heimbringen. Doch ist es richtig, Schülern aus Problemvierteln zwei Dollar für jedes gelesene Buch zu bezahlen, um so ihre Lesefähigkeit zu verbessern? Ist es nicht Bestechung, wenn eine Krankenkasse ihren Versicherten Geld erstattet, wenn sie gesund leben? Darf man einer Drogenabhängigen dafür, dass sie sich sterilisieren lässt, als Belohnung 300 Dollar geben?

Gibt es Dinge, die für Geld nicht zu kaufen sein sollten, möchte Sandel wissen und nennt auch gleich Folgen, die es haben kann, wenn vorher durch Bürgerengagement und Ehrgefühl erledigte Dinge plötzlich für Geld zu haben waren. Nicht immer bedeutet das, dass auch jemand deswegen schlechter gestellt ist, manchmal profitieren sogar alle Beteiligten materiell, doch dafür gehen oft ideelle Werte verloren. Und was ist überhaupt mit Geschenken? US-Wissenschaftler haben ermittelt, dass durch falsche Geschenke in den USA Milliarden Dollar vernichtet werden. Demnach sei es viel einfacher, Geld zu schenken oder zumindest Wertgutscheine, damit könne sich jeder das kaufen, was er will und braucht, und unnütze Geschenke landen nicht mehr im Müll. Doch Sandel schildert auch, welche emotionale Verarmung damit einhergehen würde, wenn beispielsweise ein Paar zu seinem Hochzeitstag sich gegenseitig 50 Dollar in die Hand drücken würde. Ob Verkauf von Blut, Namensrechten oder Kindern; Sandel spricht die verschiedensten Bereiche an, in denen eine wachsende Kommerzialisierung eine Veränderung bewirkt.

„Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes“ war zurecht über Wochen auf der „Spiegel“-Bestsellerliste. Denn auch wenn die letzten beiden Kapitel inhaltlich schwächer sind als die ersten, ist die Lektüre des Buches ein Gewinn. Rebecca Bellano

Michael J. Sandel: „Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes“, Ullstein, Berlin 2012, geb., 299 Seiten, 19,99 Euro


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