28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
08.06.13 / Ein »international orientierter Herrscher« / Setzte Wilhelm II. auf »Recht und Gerechtigkeit« statt auf »die Macht und das Ansehen seines Volkes«, auf Ideale statt Realpolitik?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-13 vom 08. Juni 2013

Ein »international orientierter Herrscher«
Setzte Wilhelm II. auf »Recht und Gerechtigkeit« statt auf »die Macht und das Ansehen seines Volkes«, auf Ideale statt Realpolitik?

Wilhelm II., letzter König von Preußen und deutscher Kaiser, beging am 15. Juni 1913 sein 25. Thronjubiläum. Seine Zeitgenossen hatten allen Grund, ein positives Resümee seiner Regentschaft zu ziehen, gelten die Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges doch als „goldenes wilhelminisches Zeitalter“. Gleichwohl ist sein Wirken bis heute Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen. Dass es schon zu seiner Regierungszeit zwar positiv, aber durchaus differenziert betrachtet wurde, belegen zwei Texte aus dem Jubiläumsjahr.

Von Geburt an von einem körperlichen Makel gezeichnet, musste sich Wilhelm gegen vielfältige Widerstände behaupten. In seiner Jugend eitel, ungestüm und vorlaut, entwickelte er sich als gereifter Mann zu einem besonnenen Staatsmann, der seine Entscheidungen wohl abwog und schwer an seiner Verantwortung trug. Wie es sich bei einem Hohenzollernprinzen gehörte, war seine Erziehung und Berufslaufbahn auf das Militärische konzentriert. Allerdings wäre es falsch, Wilhelms Leben und Wirken ausschließlich darauf zu reduzieren, wie es heute in Veröffentlichungen zumeist der Fall ist. Nach seiner Thronbesteigung ließ er erkennen, dass er nicht gewillt war, sich mit der Rolle eines „Schattenkaisers“ hinter dem dominanten Reichskanzler Otto von Bismarck zufrieden zu geben. Der junge Kaiser, der einen ausgeprägten Sinn für soziale Gerechtigkeit und viel Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen hatte, wollte sich als sozialer Monarch sowie als Repräsentant einer modernen Epoche der Technik und Mobilität, der deutschen Wirtschaftsmacht und Weltgeltung profilieren.

Im Jahr seines silbernen Thronjubiläums blickte Deutschland auf ein Vierteljahrhundert des Friedens und der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte zurück. Die wilhelminische Gesellschaftsordnung gewährte als konstitutionelle Monarchie Rechtsstaatlichkeit, ein hohes Maß an politischer und wirtschaftlicher Freiheit und weitgehende Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung. In der sozialen Wohlfahrt nahm Deutschland unter allen Industrienationen die Spitzenstellung ein. Wenn es der Kaiser, der sich immer streng an die Verfassung hielt, auch manchmal an diplomatischer Zurückhaltung fehlen ließ, konnte man ihm die Lauterkeit seiner Bemühungen um Frieden und Wohlstand seines Volkes nicht absprechen. Das Reich befand sich auf dem Gipfel nationaler Größe, was seine Zeitgenossen überwiegend der Person des Kaisers zuschrieben. F. W. Wile, der Berliner Korrespondent der „New York Times“, schrieb dazu: „Als Generaldirektor der Firma Deutschland GmbH hatte Kaiser Wilhelm eine schwere Rolle zu spielen, und er hat sich seiner Aufgabe mit eminentem Erfolg entledigt.“ Die Jahre seiner Regentschaft zählen zu Deutschlands Blütezeit – eine Tatsache, die heute nur allzu gern verdrängt wird.

Die Berichterstattung der deutschen Blätter über Wilhelms Thronjubiläum entsprach ganz dem damaligen Zeitgeist, bejubelten sie doch fast ausschließlich Wilhelms Beitrag zu des Reiches nationaler Selbstbehauptung und Größe, zu dessen Weltgeltung und Erringung eines gleichberechtigten „Platzes an der Sonne“ neben den anderen Großmächten. Einen ganz anderen Ansatz zur Würdigung von Wilhelms Regentschaft wählte dagegen der Berliner Pastor Hans Francke in den „Blättern für Volkskunde – Halbmonatsschrift für Bil­dung/Er­ziehung und Leistung“ vom 15. Juni 1913. Als Erstunterzeichner des Friedensappells deutscher Theologen aus dem gleichen Jahr stellte er Wilhelms „25 Jahre Friedensregiment“ heraus. Er sieht Wilhelm als Begründer einer neuen, modernen historischen Epoche, in der es nicht mehr um reine Machtpolitik, sondern um die Hinwendung zu neuen, modernen Idealen gehe. Abweichend vom üblichen Tenor der Zeitungsberichte sieht er Wilhelms Fortschrittlichkeit, Internationalität, soziale Kompetenz und Friedensliebe als dessen herausragende Leistung. Wegen seines dokumentarischen Werts wird sein Artikel nachfolgend vollständig abgedruckt:

„Was wird über die Regierung Wilhelms II. in den Geschichtslehrbüchern stehen, die die deutsche Jugend im Jahr 2013 im Schulgebrauch haben wird? Ich glaube fast, da wird mit der Regierung des jetzigen Kaisers ein neuer Abschnitt in der deutschen Geschichte beginnen, und Wilhelm II. wird durchaus nicht und in keiner Beziehung als der bloße Erbe der Vergangenheit, als der Fortsetzer der bis zu ihm reichenden Überlieferung erscheinen. Er wollte es eigentlich sein. Gewiss! Er hat es selbst gesagt. Im Anfang seiner Regierung und später noch hat er oft ausgesprochen: Er wollte das Erbe der Väter treulich hüten und die ,glorreiche Tradition des Hohenzollernhauses weiterführen‘. Ja, das wollte er. Aber die Vorsehung hat ihm, so scheint’s, andres, Besseres bestimmt. Mit der Regierung Wilhelms I. scheint die Periode deutsch-preußischer Geschichte zu Ende gegangen zu sein, die durch Kriege und reine Machtpolitik den Bestand des nationalen Staates gründen und sichern muss­te. Sie ist in ihrer Art sicher geschichtlich notwendig gewesen. Mit Wilhelms II. Regierungszeit bahnt sich eine neue Epoche an. Die Nation fängt zu begreifen an, dass die salus publica, das gemeine Wohl, nicht mehr abhängig ist von starker nationaler Selbstbehauptung, als von der gesamten Weltlage. Und die lässt sich mit den Mitteln der ,Politik‘ weniger beeinflussen, als durch die Mächte des Wirtschaftslebens, des Handels, der Wissenschaft, ja sogar durch so ideologische Faktoren wie Ethik und Moral. Was hilft die schönste Staatsordnung im eignen Lande, was hilft Armee- und Polizeigewalt, was hilft Souveränität und Unabhängigkeit, wenn’s draußen in der Welt drüber und drunter geht, oder etwa gar, wenn’s draußen in der Welt über unsere Köpfe weg vorwärts geht, wenn ein Weltreich, wie das nordamerikanische, seinen Bürgern etwa Zukunftschancen bietet, gegen die sich die unsrigen rückständig ausnehmen? Bismarck konnte noch glauben, Deutschland so wirtschaftlich und militärisch stark zu machen, dass es von der ganzen Welt unabhängig wäre, dass es in edler Selbstgenügsamkeit oder in glänzender Isolierung keinen Pfifferling zu fragen brauchte nach denen da draußen, nach ihrem Wohl oder Wehe, nach ihren Verfassungszuständen, nach ihren Kulturverhältnissen. Der große Realpolitiker Bismarck sah noch nicht die Erweiterung der Weltenbühne, die Verflochtenheit unserer Existenz mit derjenigen überseeischer Wirtschafts- und Kulturfaktoren, er hatte noch keinen Blick für die geistigen und seelischen Kräfte unseres eigenen Volkes. Er konnte von der Vergangenheit noch nicht loskommen.

Die Entlassung Bismarcks war für die Anfänge der Regierungszeit unsres Kaisers charakteristisch. Sie ist mehr gewesen als sie schien. Sie war das Zeichen der unbewussten Hinwendung zu neuen Idealen. Denn, unbewusst allerdings, hat sich der Kaiser zu dem entwickelt, was er eigentlich nicht werden wollte: ein stückweis ganz moderner Mensch, vor allem ein international orientierter Herrscher, der die Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit im Verkehr mit fremden Regierungen und Völkern allmählich mehr zur Geltung brachte als den hohenzollernschen Grundsatz: ein Herrscher soll die Macht und das Ansehen seines Volkes unbedingt steigern, ganz gleichgültig, ob Nachbarstaaten und Nationen darüber klagen oder sich dadurch bedrückt fühlen! Wenn nur wir Deutschen wohl dabei fahren! Der Kaiser hat erkannt, dass das nur eine Scheinwohlfahrt ist, wenn wir auf Kosten anderer erstarken. Wir mögen vielleicht eine Zeitlang dabei „reüssieren“, nachher wird sich die immanente Gerechtigkeit der Weltgeschichte an uns rächen.

Wilhelm II. ist als Kaiser soweit international gerichtet, wie das wohl selten ein Herrscher in einem Staat mit monarchischer Verfassung gewesen ist. Und wir danken ihm das. Denn für uns bedeutet es den Frieden. 25 Jahre beinahe ununterbrochene Friedenszeit ist dem Hohenzollern beschieden gewesen, der sich vor allem berufen glaubte, die kriegerischen Traditionen seines Hauses zu pflegen. Wir segnen die Berührungen des Kaisers mit den Vertretern fremden Volkstums, seinen unbefangenen Verkehr mit Engländern, Amerikanern und Schotten. Sie haben ihm die Augen dafür geöffnet, dass die Menschen auf allen Kontinenten weit mehr gemeinsame Interessen haben als die Einzelstaaten Sonderinteressen in ihren engen Grenzen. Das wahre Glück auch des deutschen Volkes hängt heute ebenso sehr von dem Aufstieg der Gesamtmenschheit auf Erden ab, wie von dem lokalen Gedeihen innerhalb der schwarzweißroten Pfähle, das wir uns allenfalls auf Jahrzehnte erzwingen könnten, dann aber um so teurer bezahlen müssten.

Erkannt hat das der Kaiser oder wenigstens instinktiv empfunden; und aus diesen Gefühlen heraus hat er in mancher gefahrvollen Stunde für den Frieden gewirkt. Gegenüber chauvinistischen Hetzern und Schreiern ist er der Besonnene gewesen, der Weitblickende! Wir danken ihm das.

Damit hängt zusammen, was hoffentlich in weiteren Jahren sich noch mehr herausstellen wird: Der Kaiser ist gar nicht in dem Maße Politiker, wie das eigentlich sein Beruf mit sich bringt und wie es viele bei seiner Stellung für selbstverständlich halten. Er ist viel zu sehr Mensch, zu sehr zugänglich allgemein menschlichen Eindrücken und Interessen, als dass er auf die Dauer zu den Verteidigern der Fiktion zählen könnte, die lange genug die Geschichte der Vergangenheit belastet hat, als dürften im Leben der Völker und im Staatenverkehr andere Zwecke, Zielsetzungen, Grundsätze, Moralprinzipien gelten, wie im Leben der einzelnen. Wir wollen uns freuen, wenn auf dem deutschen Kaiserthron immer mehr diese Besinnung heimisch wird. Wir wollen uns freuen, wenn ein deutscher Kaiser seine Erfolge darin sucht, dass er als Mensch den Kindern seines Volkes das beste Beispiel gibt, in Ehe und Haus, in Wissenschaft und Kunstpflege, in sittlichem Streben und starkem Rechtsempfinden. Und ich denke, aus allen diesen Gebieten tauchen jetzt, zur Gedenkfeier des Regierungsantritts unsres Kaisers, Erinnerungsmomente auf, Lichtpunkte, über die wir uns wirklich freuen können. Das Familienleben des kaiserlichen Hauses darf sich dem unsrer besten Bürgerhäuser getrost zur Seite stellen (wer das etwa zu wenig gesagt findet, vergisst, was die Geschichte der Vergangenheit zumeist über königliche Ehen zu berichten hat!), das Kunstinteresse des Kaisers ist – wenn auch seiner Richtung nach kein einwandfreies – ein beredtes Zeugnis für eine geistige Vielseitigkeit, um die ihn auch berufsmäßige Vertreter geistiger Interessen beneiden könnten. Vor allem hat der Kaiser regen Anteil an der Entwick­lung der technischen und industriellen Kultur im letzten Vierteljahrhundert genommen, die ohne Beispiel in der Weltgeschichte dasteht. Im Jahre 1888 konnte das Fahrrad noch Sinnbild der aufsteigenden Verkehrsentwicklung heißen; wie weit ist es inzwischen überholt vom Automobil, Luftschiff, Flugapparat und elektrischen Lokomotivbetrieb. Vor 25 Jahren sind asphaltierte Straßen noch Ausnahmeerscheinungen der Großstädte gewesen; heute fangen sie an, sich über die Vorstädte bis auf das Land hinaus vorzuschieben. Vor 25 Jahren waren kaum unsre deutschen Hauptströme im Unterlauf notdürftig reguliert; heute ist in der Regulierung ihrer meisten Zuflüsse immense Arbeit geleistet und in den dabei angelegten Staubecken noch immensere Arbeitskraft aufgespeichert, die durch die Überlandzentralen bald selbst den Hinterwäldlern übermittelt werden kann. Es ist keine Frage, dass das persönliche Interesse des Kaisers, sein modernes Aufgeschlossensein für Probleme dieser Art der Entwicklung förderlich gewesen ist, dass ohne sein Interesse nicht so viel Köpfe und Hände mitgeschaffen hätten. Es ist keine Frage, dass wir ohne diese andauernde Friedenszeit wirtschaftlich nicht so hätten erstarken können, dass das arme Preußen, das zerrissene Deutschland von einst heute unter den Kulturmächten an zweiter Stelle steht. Und diese Segnung eines 25-jährigen Friedensregiments stimmt uns zweifach froh in der Erinnerung an das, was unsre Väter jetzt vor 100 Jahren sich sagen mochten beim Rückblick auf die letzten 25 Jahre ihres Lebens, noch mehr im Ausblick in die Zukunft der für sie kommenden Jahrzehnte.“

Soweit Pastor Hans Franckes Aufmacher „25 Jahre Friedensregiment“. Es ist bemerkenswert, dass sich die Schriftleitung der „Blätter“ zu einer Art Richtigstellung veranlasst sah, fehlte ihr an Franckes Artikel offensichtlich der großspurige imperiale Anspruch, wie er für die damalige Zeit kennzeichnend war. So stellt sie klar, dass Wilhelm II. sehr wohl für machtpolitische Kontinuität und damit für die Demonstration militärischer Stärke, koloniale Expansion und Weltmachtansprüche stehe:

„Wir sind unserem sehr geschätzten Mitarbeiter, Herrn Pastor Francke, für diese interessante Würdigung des Kaisers zu Dank verpflichtet, wenn sie auch in mancher Hinsicht einen ganz anderen Standpunkt in den Fragen der Weltpolitik und für die Wertung der eigenen nationalen Kraft erkennen lässt, wie wir ihn einnehmen. Uns will scheinen, dass der Kaiser sehr wohl als ein Fortsetzer der machtpolitischen Tradition seiner Väter, als Hüter und Mehrer des Reichs, angesprochen werden kann. Unter seiner Regierung haben wir Kiautschau ,gepachtet‘, unsere afrikanischen Kolonien gewonnen, ertragreich gestaltet und durch Neukamerun vergrößert. Heute stehen wir an der Tür des Kongostaats, der Deutsch-Ost- und Westafrika voneinander trennt, heute nähern wir uns auch von Norden Portugiesisch-Angola, das einem zusammenhängenden Deutsch-Westafrika vom Kongo bis Kap­land im Wege steht. Heute schiebt sich mit der Bagdadbahn deutscher Einfluss in Kleinasien vor und heute sichert uns das Bündnis mit einem meertüchtigeren Österreich ein Wort auch am Mittelmeer. Heute geschieht, und wir sagen: Gott sei Dank! wohl nirgends mehr eine Änderung der politischen Landkarte ohne unsere Zustimmung. Dass man sich mit uns verständigen muss, ist kein Beweis für die verfeinerte Ethik unserer Partner, kein Beweis für unsere bessere Moral oder gar für den beruhigenden Einfluss unserer kommerziellen Tüchtigkeit, sondern für die verstärkte, gewiss leider sehr schwere Rüstung zu Wasser und zu Lande. Dass auch wir vorsichtiger auftreten müssen, dass auch unsere Erfolge langsamer reifen, dass wir mitunter nur die Rosinen und andere den Kuchen bekommen, das liegt nicht an der ,internationalen Orientierung‘ des Kaisers, an die wir in diesem kosmopolitischen Sinne nicht glauben, sondern daran, dass wir über den Wassern einen noch mächtigeren Rivalen gefunden haben, England. Dass es unsern wirtschaftlichen, ihm sehr peinlichen Aufschwung, bislang, selbst mit Frankreich und Russland im Bunde, nicht ernsthaft zu stören wagte, dass wir so viel inneres Gewicht bekamen und so stark wurden, um ,die Weltlage‘ auch ohne eigene Verzichte vor gefährlichen Schwankungen zu schützen, das danken wir dem Kaiser, und darin scheint er uns doch ein Fortsetzer großväterlicher und bismarckischer Tradition zu sein.“ Jan Heitmann


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren