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08.06.13 / Wo ist Shir Khan? / In neuen Schutzzonen sollte sich die Tiger-Population erholen – Doch Wilderer und Urbanisierung sorgen für das Gegenteil

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-13 vom 08. Juni 2013

Wo ist Shir Khan?
In neuen Schutzzonen sollte sich die Tiger-Population erholen – Doch Wilderer und Urbanisierung sorgen für das Gegenteil

Im Oscar-gekrönten Kinoerfolg „Life of Pi“ gehen Mensch und Tiger als Schiffbrüchige eine märchenhafte Allianz ein um zu überleben. Im wahren Leben kämpfen nur die Tiere ums Überleben. Bei einem Krisengipfel in Russland versprachen 13 Tigerländer vor zwei Jahren, große Schutzzonen einzurichten. Trotzdem nimmt der Bestand weiter ab, wie ein Blick nach Indien zeigt.

Zu Fuß zum Dschungelkönig? Durch Wald, Elefantengras und sumpfige Seelandschaft auf der Spur des Tigers? In einem abgelegenen Winkel Südindiens in der Bergkette der Western Ghats macht sich zweimal die Woche ein Trupp Ex-Wilderer auf den „Thekkady Tiger Trail“, im Schlepptau eine Handvoll Wild­life-Touristen. Das Hinterland des Periyar-Stausees, aus dem geisterhaft tote Bäume ragen, ist Tigerland. 53 der Großkatzen streifen hier umher, wie die letzte Zählung ergab.

Indien hat 27 Tigerreservate. 1909 Bengaltiger streifen durch das Land, jeder dritte außerhalb der Reservate. Indien ist die letzte Tiger-Hochburg. Auf dem Subkontinent könnte sich das Überleben der Art entscheiden.

Indien ist Heimat für rund die Hälfte aller Tiger in freier Wildbahn. Die Tigerschutzgebiete in den Western Ghats und die am Fuße des Himalayas lassen der Art ausreichend Raum und ermöglichen genetischen Austausch, solange die Reservate durch Korridore verbunden sind. Anderswo, vor allem in Südostasien, gibt es nur noch ein Sammelsurium versprengter Kleinstbestände in viel zu kleinen Reservaten, Inseln schwindender Mini-Populationen, die auf Dauer kaum lebensfähig sind.

Um 1900 streiften noch rund 100000 Tiger durch Asien. Anfang der 1980er Jahre waren es noch 8000 Tiere. Heute sind es nach Schätzungen der Naturschutzorganisation World Wide Fund for Nature (WWF) noch 3200, andere gehen von 4000 Tieren aus. „Der Niedergang hält an und könnte unumkehrbar sein“, schreibt die Weltnaturschutzunion (IUCN). Keine einzige Subpopulation – der Bestand in einer bestimmten Region – mache mehr als 250 Tiere im Fortpflanzungsstadium aus.

Für den Tiger steht es fünf vor zwölf. Wilderei, Siedlungsdruck, Abholzung setzen ihm dramatisch zu. Ohne eine radikale Verteidigung seiner Reservate gegen den Menschen, ohne hartes Durchgreifen gegen Wilderer und ihre Händlermafia droht dem Tier in freier Wildbahn der Garaus.

Auch in Indien sieht es nicht gut aus. Die ersten Tigerreservate wurden schon tigerfrei geschossen. Der Zähl­appell 2010 strafte so manche für den Tourismus geschönten Be­standszahlen Lü­gen. Im Schutzgebiet Sariska, 110 Kilometer von Dehli entfernt, wurden alle Tiger getötet. Gleiches Bild im nahen Panna-Nationalpark. Die Kamerafallen, mit denen Forscher in der Wildnis Tierbestände fotografisch ermitteln, lügen nicht. Nur ganz selten tappt eine der Großkatzen in die Fotofalle.

Wie weit sich der Tiger zurück­gezogen hat, zeigt eine aktuelle Feldstudie. Biologen entdeckten, dass Tiger in Nepal den Großteil geeigneter Lebensräume wegen geringerer Beutetierdichte gar nicht besiedeln. Nur auf 5049 von 13915 Quadratkilometern in der Terai-Tiefebene waren die Großkatzen präsent. Zuvor waren Zoologen von einer doppelt so weiten Verbreitung ausgegangen. Das Terai-Gebiet gilt als eines der Herzstücke für das langfristige Überleben des Bengaltigers.

Wo der Tisch nur karg gedeckt ist, da ist kein Tiger. „Die Tigerdichte korreliert direkt mit der Dichte an Beutetieren“, schreiben die Forscher im „Journal of Zoology“. Zu der geringen Beutetierdichte trägt vor allem die Wilderei bei, hauptsächlich außerhalb der Schutzgebiete. Shannon M. Barber-Meyer, US-Wildbiologin und Autorin der Studie, sieht den Befund nicht nur negativ: „Es bleibt viel geeigneter Lebensraum für Tiger in Nepal – wenn wir uns anstrengen, die Kernpopulationen der Tiger und die Korridore zwischen den Lebensräumen zu schützen.“

Für die Dschungelcamper in Indiens Periyar Nationalpark geht es drei Tage quer durch die Wildnis mit Trägern, Koch und Fährtenleser in olivgrünen Tarnanzügen, vorneweg ein Guide der Forstverwaltung mit Gewehr im Anschlag. Im Morgengrauen der dritten Nacht reißt ein langgezogenes „Auuuun“ alle aus dem Schlaf. Der Tiger ist da. Den Dezibel nach könnte er vor dem Zelt stehen. Guide Tanghan läuft aufgeregt ins Camp. Er hat den Tiger gesehen, als er im Schlafanzug zum Waschen an einen nahen Tümpel ging.

Voriges Jahrhundert waren es zuerst weiße Großwildjäger, die die Tiger dezimierten. Dann ließ vor allem die Abholzung der Wälder und die Urbanisierung die Bestände weiter einbrechen. Seit den 1990er Jahren ist die Wilderei, befeuert durch den Handel mit Tigerknochen, die Hauptursache für das Tigersterben. Vor allem in China blüht die Quack­salberei. Tigerprodukte – von Knochen und Kralle bis zum Tigerpenis – gelten dort als Allheilmittel, obwohl eine medizinische Wirkung nie erwiesen wurde.

Guide Tanghan drängt zum Aufbruch, vielleicht können wir den Tiger noch sehen. Durch Grasland geht es zum Waldrand, wo der Tigerexperte die Katze zuletzt gesehen hat. „Ein Tigerweibchen mit Jungen“, sagt er. Doch der Dschungel hat die Tigerin direkt wieder verschluckt. „Wir gehen lieber nicht weiter, im Wald ist es zu unübersichtlich und zu gefährlich“, sagt unser Guide. Er hat seinen fünften Tiger gesehen. Wir haben Shir Khan, den König des Dschungels, nur gehört.

In 13 Ländern streifen Tiger noch frei herum. Vor allem in Indochina und auf Sumatra sind die Bestände zuletzt weiter eingebrochen. Vielerorts sind es so wenige Tiger, dass es für eine fortpflanzungsfähige Population nicht mehr reicht. Vor allem außerhalb der Schutzgebiete meldet sich der Tiger ab.

Dabei könnte das Vorkommen größer sein. Der WWF hat errechnet, dass asienweit 1,1 Millionen Quadratkilometer Land als Tigerhabitat prinzipiell geeignet sind. Bei zwei Tigern auf 100 Quadratkilometer würde das für 22000 Tiger langen.

„Pro Wildlife“ verlangt, dass die Tiger-Staaten „noch mehr Schutzgebiete ausweisen und die Wildhüter im Kampf gegen Wilderei besser ausstatten“. China müsse gegen den Verkauf von Tigerprodukten strikt vorgehen, auch gegen Produkte aus Tigerfarmen. Diese Geschäfte, so Sprecherin Sandra Altherr, heizten die Nachfrage nach Tigerprodukten und damit die Wilderei an. „Das deutsche Umweltministerium könnte China auffordern, den Handel mit Tigerprodukten innerhalb Chinas konsequent zu beenden“, sagt die Biologin.

Und so gibt es auch hoffnungsvolle Signale. Beispiel Nepal: Dort dehnten die Naturschutzbehörden nach dem Ende des maoistischen Guerillakriegs wieder Patrouillen aus, schufen neue Beobachtungsposten, etablierten ein Weidemanagement mit Rotation und legten in Korridoren Wasserlöcher an. Erste Erfolge kamen rasch. Ein Monitoring des WWF in Nepals Bardia Nationalpark zeigte eine Verdoppelung der Tigerbestände binnen drei Jahren. Und: Allein 2011 wurden in Nepal mehr als 300 Wilderer und illegale Händler dingfest gemacht.

In Indiens Bundesstaat Maharashtra hat man den Wildererbanden voriges Jahr derweil eine sehr klare Ansage gemacht: Wildhüter, die in Schutzgebieten mutmaßliche Wilderer töten, werden nicht mehr bestraft. Kai Althoetmar


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