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15.06.13 / Im Schatten der EU-Außengrenze / Gerdauens Schicksal ist exemplarisch für das russische Grenzgebiet zur Republik Polen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-13 vom 15. Juni 2013

Im Schatten der EU-Außengrenze
Gerdauens Schicksal ist exemplarisch für das russische Grenzgebiet zur Republik Polen

Während Königsberg boomt, bleiben große Teile der russischen Exklave rückständig. Während sich die Pregelmetropole auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 vorbereitet und ein neues Stadion baut, das an einen leuchtenden Bernstein erinnern soll, während an der Ostseeküste neue Hotels aus Beton und Glas errichten werden und während modernste Autobahnen Ostpreußens Hauptstadt mit Rauschen und Cranz verbinden – bleibt gerade das Grenzgebiet zur Republik Polen verhaftet in trauriger Nachkriegszeit. Bis dorthin dringen die Millionen, die die nahende Fußball-WM in das Gebiet spült, nicht vor.

Der Ort Gerdauen könnte schön sein. Die ostpreußische Kleinstadt liegt malerisch in hügeliger Landschaft, sie besitzt eine kleinteilige Altstadt, eine aus dem frühen 15. Jahrhundert stammende Backsteinkirche und einen großen Marktplatz. Überhaupt besitzt Gerdauen sehenswerte Architektur: das stolze neoklassizistisch-biedermeierliche Landratsamt von 1905, die um 1920 neu erschaffene Altstadt, die Wasserturm-Zwillingstürme der Bahn und zahlreiche weitere sehenswerte Bauten aus der Vorkriegszeit.

Doch Gerdauen ist nicht schön. Ganze Straßenzüge am Markt sind verschwunden, in sowjetischer Zeit abgerissen worden. Fachwerk­häuser, ungewöhnlich in der Russischen Föderation, sind zu Ruinen verkommen. Nahezu alle Häuser der Altstadt verfallen, manche sind einsturzgefährdet. Notdürftige Sicherungsmaßnahmen an den Dächern und eine Reihe bunt gestrichener Autoreifen als innerstädtischer Platzbegrenzung unterstreichen einen vollkommen desolaten Eindruck. Auf dem Marktplatz verkauft ein fliegender Händler Schuhe auf der Motorhaube einer sowjetischen Wolga-Limousine. Daneben wird Kleidung in Bananenkisten angeboten. An zwei heruntergekommenen Häusern aus der Vorkriegszeit hängt ein Plakat mit einer attraktiven Frau: Werbung für ein Kosmetikstudio zwischen den Ruinen.

Gerdauen liegt unmittelbar an der EU-Außengrenze, nur einen Spaziergang von Polen entfernt. Diese Grenze – zwei parallele Metallzäune, die unter Strom stehen – ist das Problem. Russen, die nicht aus dem Königsberger Gebiet stammen und Nicht-Russen müssen sich bei der Polizei anmelden, wenn sie Gerdauen besuchen wollen. Eine spontane Reise in die Stadt ist nicht möglich. Entsprechend lohnt es sich nicht, in Tourismus zu investieren. Die EU-Außengrenze behindert die Entwicklung der Grenzregion, sie blockiert in ihrer jetzigen, undurchlässigen Form das Zusammenwachsen des zusammengehörenden Landes. Für die Grenzstadt Gerdauen bedeutet das eine dramatische Ungerechtigkeit: Nur ein paar hundert Meter haben über das Schicksal entschieden, haben diktiert, dass Gerdauen gefangen bleibt in der Vergangenheit.

Doch auch wenn alles grau in grau scheint – hoffnungsvolle Ansätze findet man selbst in Gerdauen. Die Schule zeigt sich unerwartet nicht als Ruine. Sie ist frisch saniert und wurde in den Klassenräumen mit nagelneuen Beamern ausgestattet. Auch den Kindern sieht man keine Armut an. Sie sind sogar besser gekleidet als deutsche Schulkinder – und sie scheinen die Schule noch als eine Chance für ein besseres Leben zu begreifen.

Die Russische Föderation ist auf dem Weg in das 21. Jahrhundert – ja, selbst in Gerdauen. Die Kinder, die hier aufwachsen, bekommen vielleicht einmal die Möglichkeit, Karriere zu machen. In Moskau oder St. Petersburg oder im Westen. Aber ob es für den Ort, für die phantasievollen Bauten des Architekten Heinz Stoffregen und für die mit deutscher Hilfe notdürftig gesicherte Backsteinkirche noch Hoffnung gibt, steht weiter in den Sternen. Trotz Fußball-WM in Königsberg. Nils Aschenbeck


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