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29.06.13 / Fest im Sattel / Freie Radfahrt durch Europas letzte Diktatur – Eine Reise auf Drahteseln durch ein erstaunlich weltoffenes Weißrussland

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-13 vom 29. Juni 2013

Fest im Sattel
Freie Radfahrt durch Europas letzte Diktatur – Eine Reise auf Drahteseln durch ein erstaunlich weltoffenes Weißrussland

Bei uns herrscht Ordnung im Land: Diesen Leitsatz von Staatspräsident Alexander Lukaschenko spürt man schon bei der Einreise, ist doch das Verbot, Geldscheine in Pässe zu legen, deutlich ausgeschildert.

Es scheint auch ohne Trinkgeld relativ zügig zu klappen beim Übergang in Bruzgi von Polen nach Weißrussland. Wir müssen dem Zollbeamten nur noch exakt begründen, warum wir als Fahrradgruppe zwei Begleitfahrzeuge brauchen und nicht eines. Dann sind wir drin, in der letzten Diktatur Europas. Flankiert von Getreidewüsten radeln wir auf auffallend guten Straßen ohne Autoverkehr gemütlich dahin. Immer wieder tauchen auf Bushäuschen naiv gemalte einheimische Tier- und Pflanzenarten auf. Im ersten Lebensmittelgeschäft sieht es aus wie in einem Spielzeugladen. Eine leuchtend rote Wage, dazu passende rote Regalrahmungen, Decke und Wände sind schön milchverglast. All das hat etwas Liebevolles an sich und wir sind uneins darüber, ob es sich dabei um Dekor oder um Aufweichung des lukaschenkoschen Ordnungsbegriffs handelt.

Im 250000 Einwohner zählenden Grodno sind die Laternen­kandelaber zur Feier des Unabhängigkeitstages am 3. Juli mit rot grünen Farben geschmückt. Adrett gekleidete junge Paare schieben im ruhigen Gleichschritt Kinderwagen herum. Die Fassaden sind gepflegt und das nicht nur am zentralen Platz Sowietskij.

Für Nichtliebhaber von Hundekot stellt sich ein kurzer Hauch von Sehnsucht ein, die aber in den nächsten Tagen zurechtgerückt wird. Stadtführer Sergej führt uns von der barocken Jesuitenkirche über laut trällernde Ampeln zum Drama-Theater. Die Mischung aus Neoklassizismus und Jugendstil ist der künstlerische Stolz der Stadt. „Wir haben zur Zeit eine Interpretation von „Des Kaisers neue Kleider“ im Programm, die unseren Präsidenten aufs Korn nimmt“ verkündet er. „In der Geschichte starren die Leute den Kaiser mitsamt seinen nicht vorhandenen Kleidern an, im Stück wenden sie sich zum Schluss einfach von ihm ab“, was wohl als Systemkritik verstanden werden kann.

„Wieweit darf man hier im Land gehen, darf man Lukaschenko offen kritisieren?“, fragen wir. „Das“, meint Sergej, „tut man am besten in der Küche oder im Wald.“ Am Nachmittag sitzen wir wieder auf dem Sattel. Es geht durch den Biarezinski-Nationalpark. Die Strecke ist sehr schön. Aus Wiesen herausschießendes Buschwerk verdichtet sich bis zum Horizont hin zu endlosem Grün. Wälder fluten immer wieder zurück und geben einsame Gehöfte frei. Hier gingen im Dezember 1812 die Reste von Napoleons „Grande Armee“ über die Beresina, was infolge von Kosakenangriffen zu einer mörderischen Massenpanik geriet. Tolstoi hat dieses in „Krieg und Frieden“ beeindruckend festgehalten.

Wir radeln durch eines der vielen hölzernen Dörfer, vorbei an bunten Fassaden, Blumen, Bänken und erstaunt blickenden Menschen. Wir machen Fotopause am schönsten, an einem See gelegenen Haus. Kaum sind die Auslöser gedrückt, platzt aus dem Vorgartenidyll ein wütendes Rumpelstilzchen heraus. „No photo, no photo.“ Es greift nach einer Kamera. Wir strampeln fluchtartig über den Sandweg. Es kommt zu Stürzen, einer flucht, der andere scherzt: „So kann ich sagen, ich bin bei der Beresina gefallen“. – „Das war eine Funktionärs-Datscha, ein kleiner Vorgeschmack, was passiert, wenn man in Minsk den Präsidentenpalast fotografiert“, erklärt unser Reiseleiter.

Durch die 1,8-Millionen-Metropole Minsk führt ein Radweg an Seen und Parks entlang. Von der historischen Altstadt hat der Krieg wenig übriggelassen. Heute dominieren breite Boulevards im Stil stalinistischer Zuckerbäckerei, die aber ihren eigenen illuminierten Charme haben. Es fällt eine gewisse Janusköpfigkeit auf. Neben monumentalen Fenstergebirgen gibt es Verspieltheiten wie etwa die Tänzerinnen vor der Bolschoi-Oper oder das ergreifende Denkmal der trauernden Mütter der Afghanistan-Gefallenen auf der „Insel der Tränen“.

Wir können uns per Rad auf den Bürgersteigen und in den Parks vollkommen frei bewegen, weil wir Rücksicht nehmen. In dem Fontänenspringbrunnen vor der Oper planschen Kinder mitsamt ihren Fahrrädern herum. Polizei ist weit und breit keine zu sehen. Die „Galerie Y“ an der „Vulitsa Niezalleznasci“ ist Buchladen, Bildergalerie und Treffpunkt der Künstlerszene der Stadt. Hier werden nicht nur

T-Shirts mit dem Aufdruck „Belarus-error, not found“, sondern auch avantgardistische Malerei und kritische Bücher angeboten.

Warum lässt das Regime diesen Freiraum zu? Ist es so, dass, wie die Galeristin Nadja Selenkowa sagt, man eine Art Pakt eingegangen ist? „Wir beraten, wenn sich unser Land im Ausland kulturell präsentiert, bei Ausstellungen oder der Betreuung unserer Kulturattachés. Dafür haben wir gewisse Freiheiten.“ Oder leistet sich das System ein kleines Ventil für Kritik? Im Café nebenan wird jedenfalls leise und doch erstaunlich offen geredet. Man spürt hier die Sehnsucht nach Veränderung. Michael Lösch


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