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13.07.13 / So war es und nicht anders / Erinnerungen an das Waisenhaus in Pobethen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-13 vom 13. Juli 2013

So war es und nicht anders
Erinnerungen an das Waisenhaus in Pobethen

Jedes Vertriebenenschicksal wäre einer Dokumentation wert, denn die Erlebnisse, die man als Heimatloser in den bittersten Stunden des Lebens erfahren musste, sind so auf den betreffenden Menschen zugeschnitten, dass man seine Biographie nicht auf andere Schicksalsgefährten übertragen kann, selbst wenn sie Ähnliches erlebt haben. Viele Flüchtlinge haben es getan, haben ihre Lebensläufe niedergeschrieben und in Buchform veröffentlicht, so auch Frau Inge Keller-Dommasch in ihren Erinnerungen „Wir aber mussten es erleben“. Als die in der Schweiz lebende Autorin das Buch im Jahr 2002 herausgab, ahnte sie noch nicht, dass bereits zwei Jahre später eine weitere Auflage notwendig sein würde. Und nun kann sie sogar die dritte Auflage vorlegen, die – überarbeitet und erweitert – den dokumentarischen Wert ihres Werkes noch wesentlich erhöht, denn sie konnte die Erinnerungen eines ehemaligen Flüchtlingskindes aus dem Waisenhaus Pobethen als Sonderkapitel einfügen, das die Authentizität der in dem Buch geschilderten Vorgänge beweist.

Es war ein Glücksfall für Inge Keller-Dommasch, als sie vor vier Jahren einen Bericht der in den USA lebenden Königsbergerin Annemarie Golloch de Leary erhielt, in dem diese ihre furchtbaren Kindheitserlebnisse im Jahr 1947 in dem russischen Waisenhaus Pobethen geschildert hat. Hatte doch die Autorin selber fast an den Ausführungen ihrer Mutter Margarete Dommasch gezweifelt, die ihre eigenen Erfahrungen in das Buch ihrer Tochter einbrachte. Diese von Mutter und Tochter aus so verschiedener Sicht geschilderten Situationen machen den besonderen Reiz des Buches aus, denn generationsgemäß erlebten beide Frauen sie anders. So beschreibt Margarete Dommasch, dass in das Waisenhaus Pobethen, in dem die Kindersterblichkeit sehr hoch war, immer wieder neue Kinder kamen, die von den Russen einfach auf den Straßen aufgegriffen wurden, um mit ihnen die geforderten Bestandslisten aufzufüllen. Das schien der Tochter, die damals von den Russen als „Sanitarka“ eingesetzt worden war, fast unglaublich, sie nahm aber diese von ihrer Mutter dokumentierten Vorfälle in ihr Buch auf.

Und das hatte absolut seine Richtigkeit, denn nun las sie den Lebensbericht von Annemarie Golloch de Leary aus Illinois, in dem diese genau diese Vorfälle bestätigte. Die Zehnjährige war im Februar 1947 in Cranz auf der Straße von russischen Soldaten aufgegriffen und mit einem Laster der Roten Armee in das Waisenhaus im nahen Pobethen gebracht worden, zusammen mit anderen deutschen Kindern, die verhungert und verwahrlost aussahen und es auch waren, denn die Mütter – wenn diese überhaupt lebten – mussten arbeiten, und es gab in dem Hungerwinter kaum etwas zu essen. Im Waisenhaus fand dann Annemarie ihre Geschwister wieder, den zwölfjährigen Herbert und die achtjährige Renate, die seit Januar spurlos verschwunden waren. Die Mutter Elisabeth Golloch hatte mit ihren drei Kindern die russische Okkupation in Cranz erlebt, wohin sie im August nach den Bombenangriffen auf Königsberg gegangen waren. Die Russen trieben sie dann mit anderen Cranzer Bürgern quer durch das nördliche Ostpreußen bis nach Schloßberg/Pillkallen. Den Gollochs gelang es, nach Cranz zurückzukehren. Sie waren dann mit anderen Königsberger Familien im „Haus Rosa“ untergebracht, das sie allerdings im Frühjahr 1946 verlassen mussten. Sie kamen dann in einem zerstörten Haus gegenüber dem Kasino unter, aber weil Frau Golloch für die Russen arbeiten musste, konnte sie sich nicht um die Kinder kümmern. Im Waisenhaus begann für die kleine Annemarie die Hölle. Ihre Geschwister starben beide den Hungertod und wurden in einer notdürftig ausgehobenen Grube beerdigt. Dieses traumatische Bild der dünn mit Sand bedeckten Kinderleiber in dem Massengrab hat die mit einem Amerikaner Verheiratete noch heute vor Augen. Wie sie sich überhaupt an alles erinnert, was davor und danach geschah. Drei Monate später gelang es nämlich Annemarie, von den Distelfeldern, auf denen die Kinder arbeiten mussten, zu fliehen und sich nach Cranz durchzuschlagen. Im November 1947 kamen Mutter und Tochter mit dem ersten Transport nach Sachsen-Anhalt. Dieses sehr emotional geschilderte Kinderschicksal bereichert nun die Neuausgabe des Buches von Inge Keller-Dommasch, das zusammen mit Kommentaren der Verfasserin einen Umfang von fast 290 Seiten hat und gut bebildert ist. Ein kleiner Glücksfall auch für uns, denn ich erhielt es gerade, als ich die in der obigen Kolumne geschilderten Episoden bearbeitete, so dass sich jetzt ein noch tiefer greifendes Bild jener furchtbaren Nachkriegsjahre ergibt. (Inge Keller-Dommasch: „Wir aber mussten es erleben. Erinnerungen an Ostpreußen bis zur Vertreibung 1947“, Nation & Wissen Verlag, Riesa, ISBN 978-3-9814347-9-8) R.G.


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