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31.08.13 / Abbado und das »Wunder von Luzern« / Weltklasse am Vierwaldstättersee: Wie ein Klassik-Festival seinen 75. Geburtstag zelebriert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-13 vom 31. August 2013

Abbado und das »Wunder von Luzern«
Weltklasse am Vierwaldstättersee: Wie ein Klassik-Festival seinen 75. Geburtstag zelebriert

Buhrufe in Bayreuth, Ratlosigkeit in Salzburg, Jubelstürme in Luzern – der Festspielsommer 2013 präsentiert sich in vielfältigen und gegensätzlichen Facetten.

Gäbe es eine Weltmeisterschaft für klassische Musik, sie müsste in Luzern ausgetragen werden. Seit zehn Jahren trifft sich dort im Sommer die Elite der Streicher sowie Blech- und Holzbläser, um als Lucerne Festival Orchestra das Publikum mit erlesensten Klängen zu verwöhnen. Hinzu kommen die vielen jungen Musiker, die noch nicht zur absoluten Elite zählen, aber unüberhörbar auf dem Wege dorthin sind.

Zwei Namen stehen für dieses Lucerne Festival: Claudio Abbado und Pierre Boulez schufen das „Wunder von Luzern“, so der Titel des lesenswerten Jubiläumsbuchs. Abbado, der vor wenigen Wochen 80 Jahre alt wurde, hatte 1998 mit den Berliner Philharmonikern den Konzertsaal im neuen KKL (Kultur- und Kongresszentrum Luzern) eingeweiht. Offenbar hatte ihn dieser futuristische, zwischen Altstadt, Vierwaldstättersee und Rigi schwebende Bau so inspiriert, dass er die Idee eines eigenständigen Festivalorchesters nicht mehr los wurde. Und da er nicht „irgendein“ Dirigent ist, sollte es auch nicht „irgendein“ Orchester sein, sondern ein ganz besonderes. 2003 ließ dieser einmalige Klangkörper erstmals von sich hören.

Die Besetzungsliste liest sich wie das Who is who der internationalen Solisten-, Kapellmeister- und Musikprofessorengilde. Jedes Jahr aufs Neue aus diesen Stars in kürzester Zeit ein perfekt harmonisierendes Ensemble zu machen, ist das große Verdienst Abbados.

Als Beispiel nehmen wir die diesjährige Darbietung zweier unvollendeter Werke: erst Franz Schuberts Sinfonie Nr. 7 (h-moll D 759), dann Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 (d-Moll WAB 109).

Schubert (1797–1828) hatte die beiden ersten Sätze – Allegro moderato und Andante con moto – 1822 zu Papier gebracht, hätte also noch gut sechs Jahre Zeit gehabt, das Werk zu vollenden. Warum er das nicht tat, verdeutlicht die Interpretation Abbados mit dem Lucerne Festival Orchestra. So ergreifend, so in sich geschlossen (und auch so wunderschön) hat man Schubert noch nie gehört. Es ist, in der Sprache der Musik, bis hin zu den letzten Dingen alles gesagt, man hat ganz und gar nicht das Gefühl, nach dem Schlussakkord des Andante müsse noch etwas kommen. Offenbar hatte der Komponist es genauso empfunden – und nicht weiterkomponiert.

Anders Bruck­ner (1824–1896): Von 1887 an arbeitete er, mit Unterbrechungen, an der Neunten, hatte mit Misterioso, Scherzo und Adagio drei Sätze fertiggestellt, wusste wohl auch schon recht genau, wie er das Finale anlegen wollte, war aber so geschwächt, dass er über eine grundsätzliche Konzeption nicht mehr hinauskam.

Mehrfach gab es Versuche, das Finale zu rekonstruieren; Abbado verzichtet dankenswerterweise auf solche Spielerei. Seine Unvollendete endet nicht doch noch, sondern klingt aus als Übergang in eine andere Welt, zugleich als musikalisches Vermächtnis an jene, die noch in dieser Welt sind – seht die Höhen und Tiefen des Lebens, und wie man sie meistern kann!

Geradezu faszinierend, wie Abbado und sein Orchester auch die schwierigsten Passagen dieses anspruchsvollen Werkes meistern. Manche dramatischen Zuspitzungen können nur in wenigen Konzertsälen in solchem Fortissimo gespielt werden (Kompliment an Jean Nouvel und Russel Johnson, denen das KKL diese fantastische Akustik verdankt). Mittendrin im – durchaus musikalischen – Getöse steht in stoischer Ruhe der 80-jährige Dirigent, ganz wie ein uritalienischer Nonno: „Na, tobt euch mal ein wenig aus ...“ Dann ein Blick, eine eher unscheinbare Handbewegung, und die ganze Musikerschar ist von einem Takt auf den anderen heruntergefahren von höchster Dramatik aufs zärtlichste Pianissimo. Hier zeigt sich Abbados Meisterschaft, die ihn ebenbürtig mit Karajan und Bernstein macht: Er ist, ohne jede Theatralik oder gar Hektik, ein wahrer Magier, wahrscheinlich würde ihm ein Wimpernzucken reichen, um ein Hundert-Mann-Orchester sicher zu führen.

Abbados kongenialer Partner in Luzern ist Pierre Boulez. Der

88-jährige Franzose, Komponist und Dirigent, lädt jedes Jahr etwa 130 junge Musiker aus aller Welt für drei Wochen ein. Gemeinsam erarbeiten sie Kammerkonzerte und Soloauftritte sowie eine Reihe informativer Veranstaltungen für ein höchst interessiertes Publikum. Boulez mit seinen avantgardistischen Werken bürgt dafür, dass hier das zeitgenössische Musikschaffen den Ton angibt.

Schon mancher frühere Teilnemer dieser Lucerne Festival Academy darf sich inzwischen über eine Einladung zum Lucerne Festival Orchestra freuen. Ge­meinsam ist ihnen allen die Verbindung von höchster Virtuosität und unbändiger Spielfreude. So sind auch in diesem Jahr die Konzerte zum zehnten Jubiläum des Festivalorchesters und zugleich

75. Geburtstag des Festivals, getragen von begeistertem Applaus der Zuhörer und überschwänglichen Kritiken der Feuilletons – wann hat man schon beides zugleich? Szenen wie in Bayreuth und Salzburg, wo ein mehr oder weniger ratloses Publikum seinem Unmut Luft machte, erlebte man in Luzern nicht, egal ob Traditionelles oder Modernes geboten wird.

So auch am letzten Sonntag, dem Jubiläumstag, mit 30 Veranstaltungen an sechs Spielorten, alles kostenlos, aber nicht nur deshalb trotz durchwachsener Witterung gut besucht.

Genau vor 75 Jahren, am 25. August 1938, hatte Arturo Toscanini die ersten Luzerner Festspiele feierlich eröffnet. Allerdings nicht in der Stadt selbst, sondern im benachbarten Tribschen, wo er eine Art Geburtstagsständchen vor jener Villa darbot, in der Richard und Cosima Wagner sechs Jahre im Asyl gelebt hatten. So wollte Toscanini gegen die propagandistische Vereinnahmung der Salzburger Festspiele durch nationalsozialistische Kulturbanausen protestieren – mit einer Hommage ausgerechnet an jenen Komponisten und Dichter, den die Nationalsozialisten ebenfalls ideologisch vereinnahmen wollten. Hans-Jürgen Mahlitz


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