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07.09.13 / Mit 117 Waisen 1946 im Juditter »Kinderhaus IV« / Die Betreuerin Ursula Lennarz berichtet von den unsäglichen Zuständen im Haus Drawert in der Waldstraße

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-13 vom 07. September 2013

Mit 117 Waisen 1946 im Juditter »Kinderhaus IV«
Die Betreuerin Ursula Lennarz berichtet von den unsäglichen Zuständen im Haus Drawert in der Waldstraße

Dies sind einige Auszüge aus dem Bericht einer Betreu­erin, die sich im Spätsommer 1946 der verwaisten Kinder von Königsberg angenommen hatte, nachdem diese in dem „Kinderhaus IV“ – von den Russen „Detzki-dom“ genannt – eine Bleibe gefunden hatten. 117 Mädchen und Jungen waren es, die in unbeschreiblichem Zustand in das ehemalige Haus Drawert in der Waldstraße gekommen waren, verängstigt und mit großen traurigen Augen, die Haare vollkommen verklebt, so dass sie restlos abgeschnitten werden mussten. „Was waren das doch für arme, arme Wesen, anschmiegsame, liebebedürftige, ganz brave Kinder“, notiert Frau Ursula Lennarz in ihrem 1995 verfassten Bericht, der schonungslos die katastrophalen Zustände in dem Kinderhaus aufzeigt. Die Königsbergerin, die früher in Kindergärten gearbeitet hatte, war eine der drei Betreuerinnen der vereinsamten Kinder und wurde von ihnen liebevoll „Tante Ursel“ genannt. Frau Lennarz verwitwete Schiemann erinnert sich:

„Bevor ich als Betreuerin anfangen durfte, musste ich ganz alleine die ganzen Kellerräume von Schutt, Unrat und Feuchtigkeit säubern, eine anstrengende, Ekel erregende Arbeit. Die Räume, die zum Schlafen und Essen dienten, hatten nur Tisch und Bänke. Die Betten waren doppelstöckig, als Unterlage und als Decke diente dickes Papier. Kein Wunder, dass die Flöhe zu Hunderten herumhüpften, dazu gab es jede Menge Läuse. Die Krätze wurde von ,Schwester Dorle‘ mit Wegerich-Blättern behandelt, es gab ja keine Medikamente. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, keine Toilette, kein Wasser. Die Nachtwache musste zwischendurch die Kloeimer im Garten entleeren, damit sie nicht überliefen. Später wurde das Wasser kilometerweit von den „Hufen“ geholt. Am ganz seltenen Badetag kam das einzige Kind, das keine Krätze hatte, als erstes in das noch saubere Wasser.

Die Betreuung der Kinder teilte ich mit zwei weiteren Erzieherinnen: Ida Schlobinski, ,Tante Schlochen‘ genannt, eine energische, aber sehr liebe Frau, die Älteste von uns, und Renate Schmielewski, „Tante Renate“ genannt, deren Mutter mit Frau Lutkat zusammen in der Küche arbeitete. Später kam noch die russische Köchin Tassia hinzu, die mit Argusaugen darüber wachte, dass kein Teller Suppe für die Erzieherinnen abgezweigt wurde.

Das größte Problem war eben die Ernährung, um die sich alles drehte. Satt wurden die Kinder nie. Morgens gab es eine Scheibe trockenes Brot, ab und zu einen Heringskopf und Tee, der aus einem Aluminiumteller getrunken wurde, der als Universalgeschirr diente. Zum Mittagessen bekamen die Kinder eine dünne Suppe oder „Kascha“, einen Brei aus Grütze, Hirse, Kartoffeln oder Erbsen. Da die großen Kochtöpfe beim Kochen auf dem Boden immer ansetzten, wurde die abgekratzte Masse als besondere Vergünstigung an die Kinder verteilt. Zum Abend gab es wieder eine Scheibe Brot – manchmal mit Heringskopf – und Tee. So mangelhaft diese Ernährung auch war, so war es immerhin etwas, denn als die Kinder auf sich alleine gestellt waren, lebten sie im Sommer nur von Löwenzahn, Sauerampfer, Gras oder Lindenblättern. In der ganzen Umgebung gab es keinen Baum, der an den unteren Ästen Blätter hatte. Spielzeug für Kinder gab es nicht. Die Hauptbeschäftigung war stricken. Auf der Straße gefundene Fahrradspeichen wurden zu Stricknadeln umfunktioniert. Ab und zu fand man uralte Pullover, die aufgerebbelt wurden. Durch meine frühere Kindergartentätigkeit konnte ich wenigstens mit den Kindern singen, und das taten sie gern. Einige der größeren Kinder besuchten die mehrere Kilometer entfernte Schule in der Luisenallee, die kleineren sollten in einem Raum der ehemaligen Volksschule Juditten etwas Unterricht erhalten. Da aber kein Lehrmaterial vorhanden und es dazu eisig kalt war, wurde die Zeit mit Singen ausgefüllt.“

Hier kommen wir nun den oben geschilderten Erinnerungen von Pfarrer Klaus Plorin ganz nahe, denn er ging ja in die russisch-deutsche Schule in der Luisenallee. Da dürfte er mit einigen der Kinder aus dem Juditter Heim zusammen die Schulbank gedrückt haben. Auf jeden Fall will sich Frau Helga van der Loo, die uns diese Aufzeichnungen von „Tante Ursel“ übermittelt hat, mit ihm in Verbindung setzen. Die heute in Bonn Lebende, die in der von uns oben erwähnten kleinen „Gruppe Königsberger Kinder“ so aktiv ist, war auch in dem Kinderhaus IV, aber an die blaue Kleidung kann sie sich nicht erinnern, die ihre war von ziemlich undefinierbarer bräunlicher Farbe. Dass „Tante Ursel“ noch im späteren Alter mit den von ihr in schwerster Zeit Betreuten in Verbindung stand, beweist das Foto, das sie im Jahr 1994 zeigt, als ihr ehemaliger Schützling Helmut Dommasch aus Erfurt sie besuchte. R.G.


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