20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
26.10.13 / Überall Widersprüche / Reportagen aus Krisenländern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-13 vom 26. Oktober 2013

Überall Widersprüche
Reportagen aus Krisenländern

Der syrische Schuster hatte den Reporter auf gefährlichen Wegen in die Reste seines zerbombten Hauses geführt und ihm seine Sicht des Bürgerkrieges erläutert. „Jeder einzelne hier wird dir tausend Wahrheiten sagen“, sagt er. Was der Autor Navid Kermani hier in Damaskus hört, vernahm er auch in allen Staaten, die er in den vergangenen Jahren bereist hat: Es ist der für westliche Leser oft schwer begreifbare Tatbestand, dass eine Sache richtig ist und ihr Gegenteil genauso, dass ein Feind zugleich ein Beschützer sein kann, ein Fundamentalist ein tolerantes Gegenüber, ein Feind des Westens zugleich Nutznießer westlicher Hilfe.

Der 1967 in Deutschland als Sohn iranischer Eltern geborene Kermani – er ist deutscher und iranischer Staatsbürger sowie Muslim – hat sich als Orientalist und Journalist sowohl in der Wissenschaft als auch als Reporter für renommierte Zeitungen längst einen Namen gemacht. In beiden Bereichen hat er mehrere Preise für seine wissenschaftlichen Arbeiten und für seine sensiblen Reportagen aus dem Nahen und Mittleren Osten erhalten. Wie der große polnische Journalist Richard Kapuscinski, der Schriftsteller Hans Christoph Buch oder der Afrika-Kenner Bartholomeus Grill gehört er zu den relativ wenigen deutschen Autoren, die aus profunder Landes- und Sprachkenntnis, mit Sensibilität für Themen und Stilempfinden viel genauer berichten, als es normalerweise in den gängigen Nachrichtensendungen der Fall ist.

In „Ausnahmezustand“ sind Berichte aus Indien, Pakistan, Afghanistan, Syrien, Palästina und aus dem Iran enthalten, ergänzt um eine Reportage aus dem Camp für afrikanische Flüchtlinge auf Lampedusa. Zu Indien: Das Elend der Bauern, kaum Bildungschancen für die meisten Menschen stehen obszön zur Schau gestellter Reichtum und ruinöse Korruption gegenüber. Diese Extreme spalten das Land. Pakistan: Die Eskalation der politischen und religiösen Gegensätze hat zu einem „Krieg gegen die eigene Kultur“ geführt. Afghanistan: Fortschritte gibt es in der Tat, aber letztlich verpuffen doch alle Bemühungen der Nato um stabilere Friedenssicherung. Palästina: Die Menschen versinken in Hoffnungslosigkeit. Hier jedoch versagt Kermanis Bemühen um Objektivität: „Es ist mir auf dieser Reise nicht mehr gelungen, Beobachter zu bleiben. Mir ist das Verständnis verlorengegangen. Für mich als Autor ist das eine Kapitulation.“

In Teheran nimmt Kermani als einziger westlicher Reporter an den Massendemonstrationen gegen die Präsidentenwahl im Juni 2009 teil. Sein Fazit: Gegen den „gewaltigen und gewaltbereiten“ Sicherheitsapparat hatte die Opposition nie eine Chance. In Kaschmir hat der jahrzehntelange Konflikt zwischen Indien und Pakistan nur noch den einen Wunsch zur Folge: Frieden, Frieden, Frieden. Und so geht es mehr oder weniger in allen bereisten Länder.

Liest man diese bei aller Düsternis glänzend geschriebenen Texte, ist man doch ein wenig sicherer in der Orientierung. Was Kermani nach einem Besuch in einer pakistanischen Moschee an den Gläubigen ausmacht, gilt letztlich auch für den hiesigen Leser: „Es ist jene Fähigkeit, an ein und demselben Ort Widersprüche, ja die größtmöglichen Gegensätze zu ertragen und sogar für selbstverständlich zu halten.“ Dafür zumindest schult dieses Buch. Dirk Klose

Navid Kermani: „Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt“, Verlag C.H. Beck, München 2013, 253 Seiten, 19,95 Euro


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren