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09.11.13 / Napoleon ließ auf sich warten / Die Völkerschlacht begann mit zwei Stunden Verspätung – jedenfalls bei deren »Nachspiel« vor den Toren des heutigen Leipzig

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-13 vom 09. November 2013

Napoleon ließ auf sich warten
Die Völkerschlacht begann mit zwei Stunden Verspätung – jedenfalls bei deren »Nachspiel« vor den Toren des heutigen Leipzig

An diesem Morgen gleicht die Fahrt mit der Straßenbahn in den Süden Leipzigs einer Zeitreise. Das entscheidende Gefecht von 1813 gegen den „großen Schlachtenlenker“ soll historisch korrekt nachgestellt werden. Die Bahnreisenden fallen direkt in eine Gruppe Soldaten mit bunten Uniformen. Blau und rot leuchten sie in der Herbstsonne. Als der Tross sich in Bewegung setzt, laufen alle mit.

Auf einer Anhöhe direkt vor ihnen liegt ein riesiges Stoppelfeld. Die Weite erzeugt das Gefühl, dass es so gewesen sein könnte. Damals vor 200 Jahren, als Napoleon hier den Anfang vom Ende erleben musste. Bis zum Horizont hocken versprengt überall Soldatenhaufen. Einige Reiter kommen im wilden Galopp quer übers Feld, direkt auf die gerade dem 21. Jahrhundert entstiegenen Städter zu. Die Röcke fliegen, die Pferde schnaufen hörbar. Marketenderinnen schlurfen vorbei mit schwerem Gepäck. Einige Soldaten hocken müde auf kleinen Holz­wagen, versuchen ihre Pfeifen anzuzünden. Keiner nimmt Notiz von den Gästen. Per Tarnkappe stolpern sie durch ein historisches Gemälde.

„Sind Sie Preußen?“, fragt eine Dame mit hohen Absätzen eine Gruppe Waffenträger in Blau. Mit dem Sturm der Entrüstung bei den jungen Männern hat sie nicht gerechnet und verlässt das Ensemble schnell. Was sie ihr noch hinterher rufen, nimmt sie nicht mehr wahr. Der Eingang zum Geschehen liegt woanders. Also abdrehen, rechts den Hügel hinunter und dann anstehen.

Die Schlangen, die sich vor dem Eingang bilden, erinnern an jüngste Geschichte. „Wie vor ’89 an den Grenzkontrollpunkten“, är­gert sich ein Wartender. Die Passanten bleiben ruhig. Die Eintrittskarten sind bezahlt. 15 Euro für einen Stehplatz. Wer mehr übrig hat, kann sich auf einen Tribünenplatz freuen. Eine Schneise zwischen An­wohnergärten rechts und einer Mauer links bildet die Gasse zum Eingang. Drei Schritte in 30 Sekunden. Langsam windet sich der Lindwurm Richtung Tor zum Einlass.

„Glasflaschen dabei?“, ruft ein Wächter und rupft an den Ruck­säcken. „Mein schönes Wasser!“, kreischt eine Besucherin und lässt ihr Mineralwasser nicht los. Wie der Kampf ausgeht, ist unwichtig. Hoffnung breitet sich aus. Endlich angekommen. Auf einer Fläche von fünf Quadratkilometern nehmen Kostümierte ihre Positionen ein, üben ihre Darstellungen durch oder ruhen aus. Die direkten Anwohner sind aus ihren Häusern auf die Dächer gestiegen. Erinnerungen an die TV-Bilder von der Katrina-Flut in New Orleans werden wach. Nur, dass damals niemand mit Stativ, Kamera und Klappstuhl auf den Flachdächern hockte. Eine Familie hat sich eine Hydraulik-Rampe gemietet und steht nun stolz mit allen zusammen auf dem ausgefahrenen Gerät. Sekündlich füllt sich der Platz für die Zuschauer.

Die Tribünenplätze sind im Nu besetzt. Schon nach einer halben Stunde, wenn die Füße langsam müder werden, verflucht man seinen Stehplatz. Ein Zelt mit winziger Öffnung verspricht Hoffnung, doch noch etwas mehr sehen zu können. Schnell wird klar, dass es sich um den VIP-Bereich handelt. Kein Eingang für Normal-Sterbliche. Dem Fußvolk qualmen die Socken. Viele hocken sich einfach auf den durchgeweichten Boden. Direkt neben den Pferdemist. Die Wege füllen sich. Bald ist kein einziges Fleckchen Zaun mehr zu sehen. Die Menschen stehen in Zehnerreihen hintereinander. Dekorationsobjekte, Wassertanks, Container oder Befestigungssteine werden zu Sitzplätzen oder Aussichtstürmen. Eine Kleinfamilie hat sich auf einem gusseisernen Herd postiert. Gierig schauen andere, ob die vielleicht doch noch ein winziges Plätzchen frei lassen.

Im Hintergrund näselt ohne Unterlass eine Stimme ins Mikrofon. Kaum zu verstehen. „Zu viele Gäste, die noch draußen anstehen“, verkündet die Stimme, „der Beginn der Völkerschlacht wird um zwei Stunden verschoben.“ „Das dürfte man in USA nicht machen“, ruft ein Gast aus den Vereinigten Staaten. Die Menschen um ihn herum nicken. Auf den überfüllten Gehwegen tummeln sich nun über 30000 Besucher. Die Sicht ist verstellt. Man trippelt die Wege hoch und runter. Die Imbisse und Getränkestände scheinen überfordert.

An den Kassen sollen sie nun endlich aufgehört haben, weitere Tickets zu verkaufen. Ein Stand, an dem vorhin noch Pferdegulasch verkauft wurde, hat inzwischen geschlossen. Ausverkauft. „Wie kann man nur?“, empört sich eine Pferdefreundin mit Blick auf die noch lebenden Rösser. Im vorderen Bereich des Geländes ist noch ein Blick zu erhaschen. Dort nehmen die Franzosen Aufstellung. Und tatsächlich, da steht er. Mit Hut in Querlage und leichtem Bauchansatz: Napoleon. Er schaut freundlich, der Kaiser der Franzosen, und parliert mit seinen Soldaten. „Vive la France!“, brüllen die, so dass man sich erschrieckt. Sie schicken gleich noch ein „Vive, l’Empereur“, hinterher.

Zwei Stunden sind um. Die Trommeln rufen endlich zur Schlacht. Vereinzelt hört man bereits Schüsse aus der Ferne. Der Stolz der Franzosen auf ihren Kaiser ist auch nach 200 Jahren ungebrochen. Ein Besucher aus Frankreich hebt nacheinander seine Kinder auf die Schultern: „Vas-y! Vive l’Empereur!“ (Mach schon, es lebe der Kaiser!). Die Kinder zögern. Da helfen alle Ermunterungen nicht. Der Mann auf dem Feld da vor ihnen, „avec un grand chapeau sans plume“ (mit großem Hut ohne Feder), wie der Vater immer erneut erklärt, hört sicher sowieso nichts. Napoleon hat anderes zu tun. Seine Mannen in Aufstellung zu bringen zum Beispiel.

Und dann donnern die Kanonen. Sie erwischen einen ganz unvorbereitet. Der Schall dringt durch Mark und Bein. „Wir haben vergessen, wie laut Krieg eigentlich ist“, sagt ein Beteiligter. Wahrlich, dass Kanonen so laut sind, dass man sich Sorgen um das Trommelfell machen muss, ahnte man vorher nicht. Die Organisatoren haben dafür ge­sorgt, dass Be­sucher Ohrstöpsel erwerben können. Ein Paar für einen Euro. Als das Gefecht tobt, zurrt man sie aus den Hosentaschen. Eine Gruppe Bundeswehrsoldaten versucht, Blicke vom Geschehen zu erhaschen. Über den Kampfplatz wabern Nebelschwaden der Kanonen.

Dass Tausende Uniformierte aller historischen Waffengattungen nun aufeinander zu marschieren, um ein historisches Großereignis erlebbar zu machen, können nur die sehen, die auf den Tribünen hocken. Alle anderen sind enttäuscht. Für viele ist die Schlacht schon lange vor dem Sieg über Napoleon beendet. Vorzeitig streben Hunderte dem Ausgang zu und wollen zurück ins 21. Jahrhundert. Silvia Friedrich


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