18.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
14.12.13 / Literarisches Minenfeld / Vor 40 Jahren erschütterte mit Solschenizyns »Der Archipel Gulag« ein erzählerisches Mammutwerk das Sowjetimperium

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50-13 vom 14. Dezember 2013

Literarisches Minenfeld
Vor 40 Jahren erschütterte mit Solschenizyns »Der Archipel Gulag« ein erzählerisches Mammutwerk das Sowjetimperium

Als am 28. Dezember 1973 der erste Band von Alexander Solschenizyns „Der Archipel Gulag“ in Paris erschien, platzte das wie eine Bombe in den Kalten Krieg. Die schonungslose Darstellung des stalinistischen Gefängnis- und Lagersystems galt in den Augen der sowjetischen Machthaber als Affront. Der Westen feierte dagegen ein literarisches Werk, das zu einem Politikum wurde.

Moskau wollte die Veröffentlichung des „Archipel Gulag“ mit allen Mitteln verhindern. Der KGB wusste schon lange, dass Solschenizyn an einem regimekritischen Werk über die sibirischen Straflager schrieb. Im August 1973 gelangte der Geheimdienst in den Besitz eines Manuskriptes von „Der Archipel Gulag“. Jeder andere Autor, der wie Solschenizyn Veröffentlichungsverbot in der UdSSR hatte, wäre sofort verhaftet worden. Doch das internationale Ansehen des Autors, dem 1970 der Literaturnobelpreis zuerkannt worden war, schützte ihn davor. Solschenizyn handelte schnell, ließ eine Kopie des Werks auf Umwegen ins Ausland schaffen, wo es Ende 1973 im „Tamisdat“ (Westverlage, die verbotene Ostliteratur erstveröffentlichen) in russischer Sprache in Paris erschien.

Dank rascher Übersetzungen verbreitete sich „Der Archipel Gulag“ schnell. Nicht nur im Westen war man neugierig auf das Werk des Autors, der wie ein Einzelkämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit gegen die geballte sowjetische Staatsmacht antrat. In der DDR und anderen Ostblock­staaten kursierten unter Oppositionellen zum Teil mit primitiven Kameras heimlich fotografierte Kopien des dreibändigen 1800-Seiten-Werks. Obwohl sehr sperrig geschrieben, barg es doch viel Sprengstoff. Noch nie wurde mit solcher historischen Genauigkeit das größte Lagersystem der Welt dokumentiert, dem geschätzt 39 Millionen Häftlinge – darunter unzählige deutsche Kriegsgefangene – zum Opfer fielen.

„Ich schrieb dieses Buch mit dem Blut von Millionen von Toten“, sagte Solschenizyn später. Fast wäre er selbst einer von ihnen gewesen. Wegen antistalinistischer Äußerungen wurde der am 11. Dezember 1918 als Sohn eines zaristischen Offiziers im Nordkaukasus geborene Solschenizyn 1945 zu acht Jahren Straflager verurteilt. Wie er bei eisiger Kälte, harter Sklavenarbeit und gepeinigt von Hunger, Läusen und brutalen Folterknechten überlebt hat, schilderte er in „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“. Diesen autobiografischen Kurzroman schrieb der Autor nach seiner Haftentlassung in einer Zeit, als in der UdSSR politisches Tauwetter herrschte. Chruschtschow selbst soll die Veröffentlichung 1962 ermöglicht haben. Er hatte nicht ahnen können, welche Lawine er mit dieser Entscheidung lostrat, die nun gegen das Regime anrollte.

Von nun an verbreiteten sich vorwiegend im Untergrund Augenzeugenberichte vieler ehemaliger Lagerinsassen in ganz Russland. Diese Lagerliteratur diente Solschenizyn auch als Grundlage für seine folgenden Romane, die schon nicht mehr in Russland erscheinen durften, sondern 1968 in London herausgebracht wurden: In „Krebsstation“ schildert er das selbst erlebte Schicksal, als ihm im Lagerkrankenhaus ein gefährlicher Tumor entfernt wurde. Ein sich ausbreitendes kommunistisches Krebsgeschwür dient ihm dabei als metaphernreicher Subtext. Und „Im ersten Kreis“ erzählt er die privilegierte Hölle eines Speziallagers, in dem die Gefangenen einigen Wissenschaftlern bei Geheimprojekten zu Diensten standen.

Inzwischen vom sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen und damit praktisch mit Berufsverbot belegt, wurde der mittlerweile berühmteste Dissident Russlands mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Da die Auszeichnung wohl weniger der literarischen Qualität als der politischen Stellung des Autors zu verdanken war, heizte das den Ost/

West-Konflikt zusätzlich an. Aus Angst, nicht nach Russland zurückkehren zu dürfen, blieb der Autor der Preisverleihung in Schweden fern. Stattdessen schrieb er an seinem Hauptwerk, dem „Archipel Gulag“.

Mit dem Buch über die wie Inseln im Land verteilten „Hauptverwaltungen der Besserungs- und Arbeitslager“ – dafür steht das russische Kunstwort „Gulag“ – setzte Solschenizyn eine literarische Ahnenreihe monumentaler Romane fort, die von Tolstoij über Dostojewskij bis Scholochow führt. Mit Tolstoijs „Krieg und Frieden“ teilt er die Vorliebe für ausgedehnte historische Exkurse; mit Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ und „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ verbindet ihn die Verarbeitung selbst erlebten Lagerlebens; und mit Scholochows „Der stille Don“ die Aufarbeitung einer jeweils jüngsten Kriegsver­gangenheit.

Den „Archipel Gulag“ einen Roman zu nennen, würde zu weit führen. Es gibt keine Hauptfigur und keine durchgängige Handlung. Dafür wird in den sieben Büchern des Werkes akribisch mit erzählerischen Stilmitteln das Lagersystem dokumentiert. In Episoden mit Lagererinnerungen und Tagebucheinträgen fließen historisches Aktenmaterial und die Biographien von wichtigen Personen ein. Perspektivisch wird ständig zwischen Erzählung und Reflexion zur Geografie, Ge­schichte, Politik, zur Lagersprache und -moral gewechselt. Mittels Montage finden sich selbst sowjetische Gesetzestexte und authentische Gerichtsprotokolle im Buch wieder. Heute würde man diese Form der fiktionalen Darstellung eines realen Sachverhalts wohl als „Dokutainment“ bezeichnen, wo­bei im „Archipel Gulag“ der do­kumentarische Anteil den des literarischen deutlich übertrifft.

Solschenizyn hat es in Kauf genommen, dass die Veröffentlichung für ihn nicht ohne Folgen blieb. Das Buch entfaltete eine solche Sprengkraft, dass selbst kommunistische Hardliner im Westen vom Glauben abfielen. Die Machthaber im Politbüro der KPdSU handelten schnell und bürgerten den Staatsfeind aus. Da Willy Brandt in einer Rede seine Sympathie mit Solschenizyn bekundet hatte, kam dieser 1974 zunächst in die Bundesrepublik, wo er Gast von Heinrich Böll war. Nach einem Aufenthalt in der Schweiz siedelte er in die USA über. 17 Jahre lebte er dort in einer schlichten Holzvilla im Wald. Ohne sich mit dem westlichen Lebensstil anzufreunden, wartete er im Exil auf das Ende der Sowjetherrschaft, hatte er mit seinem Werk doch die literarischen Minen für die Beseitigung des Sowjetreichs gelegt.

1994 war es soweit: Über Sibirien kommend fuhr er 55 Tage mit einem Sonderzug durch Russland, ehe er sich mit Jelzin und später auch mit Putin traf. Die nationalistischen und panslawistischen Töne, die Solschenizyn in seinem letzten Monumentalwerk „Das Rote Rad“ anschlug, dürften Putin gefallen haben. 2008 verfügte er, dass die mittlerweile in Russland erhältlichen Werke des im selben Jahr 89-jährig in Moskau gestorbenen Autors dauerhaft ins Schulprogramm verankert werden. Harald Tews


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren