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14.12.13 / Versöhnungsgobelin in der Kathedrale von Chichester / Ursula Benker-Schirmer schuf den monumentalen Bildteppich

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50-13 vom 14. Dezember 2013

Versöhnungsgobelin in der Kathedrale von Chichester
Ursula Benker-Schirmer schuf den monumentalen Bildteppich

Eine 97-Jährige berichtet über eine 101-Jährige – so die Überschrift über einem Gespräch, das ich mit der Autorin Gerda Scharffenorth geführt hatte und das wir in Nummer 43 thematisiert haben. Es hat viel Anklang gefunden und manchen Menschen Mut gemacht, sich auch im hohen Alter mitzuteilen und über heute erlebte Ereignisse zu berichten, die in die Vergangenheit zurückführen. „Gegen das Vergessen“ kämpft auch Frau Friz, Kirchspiel-Vertreterin von Großlenkenau, Kreis Tilsit-Ragnit an. Sie übersandte uns einen Bericht über eine Ragniterin – nein, über zwei dort geborene Frauen, beide über 80 Jahre alt, von denen die eine als Gobelinweberin internationalen Ruhm erlangte. Das Hauptwerk von Ursula Benker-Schirmer, ein sakraler Bildteppich, hängt in der anglikanischen Kirche im südenglischen Chichester. Dort sah Frau Edith Lancaster geborene Begenat den monumentalen Gobelin und teilte ihre Eindrücke Frau Friz mit, die uns nun darüber berichtet:

„Edith Lancaster-Begenat ist für mich eine gute Freundin im Geiste, die nach achtjährigem Aufenthalt in Deutschland wieder nach England gezogen ist und ihren Wohnsitz in Chichester/Sussex nahm, um in der Nähe ihrer Tochter zu sein. Und jetzt die große Überraschung! Sie, die in Nettschunen geborene Ostpreußin, die in Ragnit die weiterführende Schule besuchte und ihre Heimat nie vergessen hat, was sie durch wiederholte Besuche bewies, sieht sich in der 900 Jahre alten Kathedrale von Chichester einem gewaltigen ,Versöhnungsgobelin‘ gegenüber, geschaffen von Ursula Benker-Schirmer aus Ragnit. Und nun gingen die Recherchen los. Lebt die Künstlerin noch? Und wo? Verbindung wird aufgenommen, auch ich werde informiert, wir sind in regem Austausch und erfahren viel über ihr umfangreiches Schaffen, das weltweit Anerkennung gefunden hat. Der Gobelin in Chichester ist ihr berühmtestes Werk mit höchsten Ehrungen auch von Seiten unserer Regierung. Hinzu kommt, dass der in den 30er Jahren amtierende Bischof Bell damals 70 Pastoren der Bekennenden Kirche aus Deutschland nach England geholt hatte. Nun hat Edith Lancaster in ihrem großen Heimweh nach Ostpreußen das Bedürfnis, die Leistungen dieser aus Ragnit stammenden Künstlerin wach zu halten und das Interesse an dieser seltenen Stilrichtung, der Gobelinweberei, wieder zu wecken. Alle diese Anregungen reiche ich an die Ostpreußische Familie weiter, haben doch Beide die 80 schon überschritten, und die Zeit läuft immer schneller.“

Aber jedes Ding hat auch seine Zeit, und deshalb habe ich mit der Veröffentlichung noch etwas gewartet. Jetzt im Advent scheint mir der richtige Augenblick gekommen, um diesen „Versöhnungsgobelin“ zu zeigen. Die Kraft der Farben kann man nur erahnen, die Künstlerin hat sich in der Farbgestaltung nach dem großen Fenster von Marc Chagall mit der Darstellung der Schöpfungsgeschichte gerichtet, einem der großen Kunstwerke in der normannisch-frühgotischen Kathedrale. Die Grundlage der ikonografischen Gestaltung bildeten vier durch das Kathedralkapitel vorgegebene Symbole – Kelch, Fisch, Kerze und Feigenbaum –, die auf Wunderberichte in der um 1220 verfassten Lebensgeschichte des Heiligen Richard von Chichester verweisen. Neben seinem Grab befindet sich die letzte Ruhestätte des von 1929 bis 1958 an der Kathedrale wirkenden Bischofs Georg Bell, einem Freund Dietrich Bonhoefers, der nicht nur den 70 deutschen Pastoren der Bekennenden Kirche eine Heimstatt bot, sondern sich auch nach dem Krieg für die Wiederbelebung der kirchlichen Arbeit in Deutschland einsetzte. Diesem Versöhnungsgedanken entspricht die deutsche Bezeichnung für den großen Gobelin, der ein Geschenk der Kirchen der Bundesrepublik Deutschland und der in England lebenden Deutschen ist. Mit dem Entwurf wurde die deutsche Künstlerin Ursula Benker-Schirmer betraut, die auch in Südengland in dem unweit von Chichester gelegenen West Dean Tapestry Studio gearbeitet hatte. Mitentscheidend für die Wahl der Künstlerin waren die starke Farbigkeit und die kristalline Abstraktion ihrer Arbeiten sowie ihre Erfahrung im Umgang mit sakralen Themen. Nach dem in den Jahren 1981/82 von der Künstlerin geschaffenen Entwurf wurde der 5 mal 7,89 Meter große Bildteppich in der deutschen Gobelinmanufaktur im fränkischen Marktredwitz und im West-Dean-College in der Nähe von Chichester gewebt. An der Einweihung im Jahr 1984 nahmen auch der damalige Bundespräsident Carl Carstens und seine Ehefrau teil.

Ein großer Tag für die 1927 in Ragnit geborene Ursula Benker-Schirmer, die 1947 mit der Ausbildung zur Bildweberin in Halle begann, auf der Berliner Meisterschule für das Kunsthandwerk ihre Gesellenprüfung ablegte, im französischen Aubusson zur Cartonniere ausgebildet wurde und dann nach Paris ging, um sich in Wandmalerei und Gobelinentwurf weiter zu bilden. Über Nürnberg, wo sie künstlerische Leiterin der Gobelinmanufaktur wurde, ging es nach Marktredwitz, um dort die Fränkische Gobelin-Manufaktur zu gründen – Endpunkt ihres Wanderweges über die vielen Stationen ihres so breit gefächerten kreativen Schaffens. So viel über die heute 86-Jährige, deren Leben und Wirken eingehend in dem Buch „Ursula Benker-Schirmer, Deutsche Tapisseriekunst des 20. Jahrhunderts“ von Katja Domdei dokumentiert wird. R.G.


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