19.04.2024

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04.01.14 / Sensationeller Fund – einmalige Dokumentation / Die Chronik der Schule von Nidden ist jetzt als Buch erschienen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-14 vom 04. Januar 2014

Sensationeller Fund – einmalige Dokumentation
Die Chronik der Schule von Nidden ist jetzt als Buch erschienen

Nun ist sie da, die Schulchronik von Nidden, über die wir in mehreren Folgen berichtet haben, und präsentiert sich als „sensationeller Fund“. So bezeichnet der Autor unseres Extra-Beitrages, Dietmar Willoweit, das Buch und erläutert unseren Lesern und Leserinnen den Seltenheitswert dieser Chronik, damit sie sich ein umfassendes Bild über diese Entdeckung machen können, deren historischer Wert schon allein wegen ihrer Authentizität nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Der Aufmerksamkeit des litauischen Wirtschaftsexperten Gitanas Nauseda verdanken wir die Auffindung und den Erwerb dieser einzigartigen Handschrift. Was sich in Nidden ereignete, brachten die Lehrer zu Papier: von 1923 bis 1936 Henry Fuchs, danach bis 1941 Richard Schwellnus und zuletzt bis 1944 Ilse Wilkening und Susanne Jenssen, die nach dem Krieg auch Erinnerungen zufügte, kurz beteiligt war Erna Bredull. Die sorgfältige Transskription der Texte übernahm „die gute Seele des Projekts“, Vilija Gerulaitiene vom Litauischen Institut für Geschichte, und hat sie, soweit notwendig, auch erläutert. Während der Arbeiten an diesem Buch tauchte eine weitere, ältere Chronik über den Zeitraum von 1894 bis 1923 auf, verfasst wohl von dem ebenfalls in Nidden tätigen Lehrer Gottlied Simmat. Auch besondere Vorkommnisse aus älterer Zeit haben diese Geschichtsschreiber festgehalten. Die Memeler Historikerin Nijole Strakauskaite porträtiert Henry Fuchs in einer soliden Einführung, die nicht nur sein Leben, sondern auch die litauische Schulpolitik schildert. Sie erleichtert damit erheblich das Verständnis vieler Details der Chronik. Entstanden ist so in Wilna (Vilnius) ein schönes, durchweg deutschsprachiges Buch mit zahlreichen Bildern und faksimilierten Zeugnissen vergangener Zeiten, zum Beispiel mit dem ältesten Stundenplan von 1854, mit amtlichen Dokumenten, Nachdrucken des Memeler Notgelds von 1923 und vielen die Nehrung betreffenden Beiträgen des „Memeler Dampfbootes“ jener Jahre, die Themen der Kurischen Nehrung behandelten und von den Chronisten ausgeschnitten und in ihr Werk eingeklebt wurden.

Ein spannendes Buch, das die Atmosphäre jener Jahre hautnah vermittelt. Nicht nur die Schule kommt darin vor – mit ihrem Lehrpersonal und den Schülerzahlen, mit den Schulausflügen und Elternabenden samt deren Programm –, auch das Gemeindeleben in guten und bösen Tagen hat die Chronik festgehalten. Die überwiegend durch den harten Broterwerb der Fischerei in Anspruch genommenen Niddener verzichteten nicht auf vielerlei kulturelle Aktivitäten, angeregt durch ihre Pfarrer und Lehrer. Die General-Kirchen- und Schulvisitation von 1911 hatte den Charakter eines Dorffestes. 1924 entsteht ein Sportverein, 1925 ein Trachtenverein, Chöre und Vortrags-, Lese- und Musikabende führen die Menschen zusammen. 1928 wird der Grundstein für das Nehrungsmuseum gesetzt und die Jugendherberge eröffnet. Oft fällt der Name des stets hilfsbereiten Malers Ernst Mollenhauer. Längst haben Sommergäste, Segler und Segelflieger die Idylle der Nehrung entdeckt. 1927 veranstalten erstmals auch die Fischer mit eigenen Kähnen eine Regatta, doch Unglücksfälle auf See und Haff mit tödlichem Ausgang sind gar nicht so selten, wenn sich auch eine rätselhafte Katastrophe wie die von 1881 mit elf Todesopfern nicht wiederholte. Über Stürme, Brände und Krankheiten hat die Chronik Buch geführt.

Von den viel größeren Gefahren der Politik ahnten die Bewohner des abgelegenen Naturparadieses noch nichts. Im Kaiserreich feierten sie patriotische Feste wie den Sedanstag und den Kaisergeburtstag. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges beflügelte zu einer Jagd auf „Spione“, die sich als harmlose preußische Untertanen entpuppten. Mit dem Ernst des Krieges aber machte das Fischerdorf im März 1915 Bekanntschaft. Weit über 1000 Menschen, die von den Russen geflüchtet waren, mussten versorgt werden. Als der Krieg anders als gedacht endete, wählten die Niddener „größtenteils sozialdemokratisch zu der Nationalversammlung“. Das war im Januar 1919 und vor dem Vertrag von Versailles. Wie man 1923 auf die Annexion des Memelgebietes durch Litauen reagierte, wissen wir nicht. Die beiden Blätter, auf denen darüber wohl etwas zu lesen wäre, sind aus der Originalhandschrift herausgeschnitten, vielleicht von Fuchs selbst. Denn er erhielt 1934 Besuch von der litauischen Staatsschutzpolizei, die viele Schriften – mit nur geringen nationalsozialistischen Spuren – beschlagnahmte. 1935 kam Fuchs in Haft, sein Prozess ist in der Chronik ausführlich dokumentiert, er endete mit einer mäßigen Strafe. Hintergrund dieses Konfliktes war die Zuständigkeit des memelländischen Landesdirektoriums für das Schulwesen einerseits und der Versuch der litauischen Regierung, Einfluss gerade in den Schulen zu gewinnen, andererseits. Nationale Emotionen trafen aufeinander, die von den Regierungen in Kaunas und Berlin befeuert, nicht abgekühlt wurden.

Seitdem nicht mehr Monarchen herrschen, sondern die Nationen sich selbst regieren, kann das Volk nicht damit einverstanden sein, ungefragt einer fremden Regierung unterstellt zu werden. In dieser Lage befanden sich seit 1919 die Memelländer. Daher kann die im Memelland aufkeimende Hoffnung, Adolf Hitlers Politik werde den Frieden von Versailles korrigieren, kaum überraschen. Sie machte nicht nur blind für die im Deutschen Reich zunehmende Unterdrückung Andersdenkender und der Juden, mit denen man in Memel doch seit Langem gut nachbarlich zusammenlebte. Die Kraftmeierei der Nazis beeindruckte. Als die litauische Regierung am 1. November 1938 den belastenden Kriegszustand aufhob, kannte der Jubel auch in Nidden keine Grenzen. Den lauten Dank an den „Führer“ verstand der Lehrer Schwellnus als „Ruf nach endgültiger Freiheit“. Die Chronik dokumentiert nun in Wort und Bild den Wandels des Lebens unter dem Nationalsozialismus. Die ausführlich beschriebene Schulentlassung 1944 gerät zu einer quasi-religiösen Bekenntnisfeier mit der Ansprache einer Lehrerin über ein „Führerwort“, in dem nur von Opfern und Härte die Rede ist. Wenige Monate später lernen die Kinder die Realität kennen, als ein deutsches Minensuchboot von russischen Flugzeugen versenkt wird und nicht alle Besatzungsmitglieder gerettet werden können. Ende Juli 1944 sehen die Niddener vielen Dampfern zu, mit denen die Memeler evakuiert werden. Die Schule muss vom 27. September bis 10. Oktober 1944 wegen Scharlach geschlossen werden. In diesen Tagen wurde die Kurische Nehrung zur Frontlinie. Die Chronik verstummte. Dietmar Willoweit/Prussia

„Chronik der Schule von Nidden“, 350 Seiten, gebunden, 59,90 Euro, alleiniger Bezug in der Bundesrepublik Deutschland über die Buchhandlung von Hirschheydt, Am Langen Felde 5–7, 30900 Wedemark-Mellendorf.


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