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11.08.17 / »Hort von Barbaren« / Münchner Historikerin betrachtet die Geschichte des Balkans

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-17 vom 11. August 2017

»Hort von Barbaren«
Münchner Historikerin betrachtet die Geschichte des Balkans
Dirk Klose

Für Südosteuropa hatte sich im 19. Jahrhundert der Ausdruck „Balkan“ durchgesetzt. Er wurde wegen des drohenden Zusammenpralls dreier Imperien –  Osmanisches Reich, Zarenreich und Habsburger Monarchie – mehr und mehr zu einem, ja zu dem europäischen Krisenherd. Noch 1876 hatte Bismarck gesagt, auf dem Balkan gäbe es kein Interesse für Deutschland, „das auch nur die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre“. Knapp 40 Jahre später riss der Mord von Sarajewo Europa in den Ersten Weltkrieg. In unseren Tagen erlebte die Bundeswehr mit den NATO-Angriffen auf das Serbien Slobodan Milosevics ihren ersten militärischen Einsatz.

Der Balkan ließ nie kalt, er wurde romantisiert oder als Hort von Barbaren verteufelt. Die Münchner Historikerin Marie-Janine Calic räumt jetzt in ihrer umfangreichen, in dieser Form wohl für länger Maßstäbe setzenden Geschichte Südosteuropas gleich reihenweise mit Vorurteilen auf, oder besser: Sie informiert überhaupt erst einmal überaus gründlich über die Geschichte der Region von der Antike bis zur jüngsten Gegenwart (2013) und sagt dezidiert: „Südosteuropa ist ein von griechisch-römischem und christlichem Erbe geprägter unauflöslicher Bestandteil Alteuropas, trotz oder vielleicht gerade wegen der fast 500 Jahre dauernden Türkenherrschaft.“ 

In mehreren Kapiteln unterteilt sie die historische Entwicklung in eine vortürkische Zeit (streckenweise das spannendste Kapitel wegen der Fülle an Ereignissen, über die man bisher kaum etwas wusste), in die so ambivalente Türkenzeit (Unterdrückung und zugleich wirtschaftlicher Fortschritt), in die nationalstaatliche Entwick-lung und die Ausbreitung Habsburgs auf dem Balkan, dann in die Epoche der Weltkriege und am Ende in eine Darstellung der Zeit von 1945 bis heute. In jedes Kapitel hat die Autorin ein Städteporträt aufgenommen, worin sie beispielhaft eine Zeitspanne in einer bestimmten Region schildert, so das albanische Kruja für die unmittelbare Vortürkenzeit an der Adria, Istanbul um 1683 im Zenit der osmanischen Herrschaft, Ragusa (das heutige Dubrovnik) als blühende Stadtrepublik und fast ebenbürtige Konkurrentin Venedigs im 18. Jahrhundert, Thessaloniki als türkisch-griechische Metropole, das bulgarische Plovdiv, Belgrad unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, das elegante Bukarest der 1920er Jahre und schließlich das schwergeprüfte Sarajewo unserer Tage. 

Die Türkenzeit spürt man auf dem Balkan bis heute. Die Autorin zeigt mehrfach, wie sehr sich christliche Religion und Nationalismus vereinten und zu ständigen Aufständen führten. Bezugspunkte waren und sind bis heute zudem antike Mythen und eine große Vergangenheit. Griechenland und Mazedonien beispielsweise streiten bis heute erbittert, wem nun eigentlich Alexander der Große gehört. Die in der unendlichen Kette von Kämpfen von beiden Seiten verübten Gräueltaten, die immer wieder ganz Europa schockierten, schildert Calic eher distanziert. Wo sie diese erwähnt, lässt sie Beobachter „entsetzt“ oder „erschüttert“ berichten. 

Auch die kommunistische Zeit nach 1945 wird vergleichsweise wertfrei referiert. Viel ausführlicher – und letztlich viel ergiebiger – schildert sie zahlreiche Lebensläufe von Diplomaten, Künstlern und Philosophen, teilweise wahrhaft kosmopolitische Köpfe und Staatsmänner vom Format eines Metternich, Bismarck oder Disraeli, die mitunter wahre Aha-Erlebnisse hervorrufen. Einen Abglanz gibt es gegenwärtig mit dem Dramatiker Eugène Ionesco, dem Historiker Emil Cioran und dem Religionswissenschaftler Mircea Eliade, alle drei Rumänen und heute weltberühmt, die als Beispiele für die vielen Talente aus Südosteuropa überhaupt stehen. 

Ein Manko des Buches: Es enthält viel zu wenige und dann zu kleine Karten. Ständig werden Städte, Burgen, Flüsse, Täler oder Bergketten genannt, aber für den Leser bleibt vieles im Ungefähren. Man rätselt mehr, als dass man genau weiß, wo sich was abspielt. Darauf müsste ein Verlag, der ein solches Buch herausbringt, von vornherein besser achten. 

Gleichwohl, Calics Geschichte Südosteuropas von Rumänien und Kroatien bis nach Griechenland ist ein großes Buch. Es verlangt vom Leser bei 700 Seiten einige Anstrengung und Konzentration, aber man wird mit einer Fülle neuen Wissens belohnt, das wirklich eine bessere Orientierung zu Ereignissen in diesem von so unterschiedlichen Völkern und Staaten geprägten Teil Europas erlaubt. 

Marie-Janine Calic: „Südosteuro-pa. Weltgeschichte einer Region“, C.H. Beck Verlag, München 2016, gebunden, 704 Seiten, 38 Euro