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01.09.17 / Ererbte Symptome / Trauma-Therapeut beschreibt die Leiden der Kriegsenkel

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-17 vom 01. September 2017

Ererbte Symptome
Trauma-Therapeut beschreibt die Leiden der Kriegsenkel
Dagmar Jestrzemski

Die in der Psychotherapie entwickelte These von den familiär vererbten Kriegstraumata war lange umstritten. 2009 konnte erstmals in einer Studie nachgewiesen werden, dass Kriegskinder tatsächlich weit häufiger unter seelischen Störungen leiden als der Bevölkerungsdurchschnitt. Weiter belegte die Studie, dass noch deren Kinder, die sogenannten Kriegsenkel, die selbst weder Bombenhagel noch Flucht und Vertreibung erfahren haben, in erhöhtem Maße von psychischen Belastungen betroffen sind. In seinem Buch „Traumakinder. Warum der Krieg immer noch in unseren Seelen wirkt“ bezeichnet der Arzt und Trauma-Therapeut Jens-Michael Wüstel dieses Phänomen als gesamtdeutsches Erinnerungserbe, dessen Spuren er immer wieder in seiner Praxisarbeit begegnet sei. Wüstel beruft sich auf seine jahrzehntelange Erfahrung als Therapeut. Mit seinen Fallgeschichten kann er einen schlüssigen Beweis für „ererbte Symptome“ erbringen. 

Erstaunlicherweise wussten einige seiner Patienten zunächst gar nichts von den traumatischen Erfahrungen ihrer Eltern oder auch Großeltern, die als Kinder die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, mitunter sogar des Ersten Weltkriegs, erlebt hatten. Erst aufgrund von Nachforschungen kam dieser Hintergrund zutage. Wüstel ermuntert im Selbsthilfe-Teil des Buches auch seine Leser, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen, weil damit oft schon ein erster Schritt zur Befreiung aus einer bedrückenden Gefühlslage getan werde. 

Unerklärliche Wutausbrüche, das Gefühl von Entwurzelung, Leistungszwang, Bindungsängste und mangelnde Selbstfürsorge bezeichnet Wüstel als typische Symptome von Menschen, die in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach 1945 geboren wurden. Für ihre Eltern, die Kriegskinder also und damit für eine ganze Generation, hatte sich während der Aufbaujahre nach dem Krieg kaum eine Chance zur Aufarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen ergeben. In den Familien und Schulen sprach man nur noch wenig über den Krieg. Unbeachtet blieb auch die Wirkung verstörender Bilder, die im Unbewussten von kleinen Kindern ihre Wirkung entfalten. War der Vater nicht aus dem Krieg heimgekehrt, fehlte dem männlichen Nachwuchs die „väterliche Initiation“ und damit eine entscheidende Hilfestellung für das Erwachsenwerden. Millionen von Menschen, auch Kindern und Jugendlichen, schlug zusätzlich der Heimatverlust schwer auf das Gemüt. 

Im Allgemeinen verinnerlichten die Menschen die Maxime, dass man Gefühle besser nicht zeigt, da Gefühle als Schwäche galten. Hinsichtlich erneuter Verletzungen regierten die Kriegskinder überempfindlich. Im Erwachsenenalter betrieben sie eine Abschottung gegen weitere Unsicherheiten im Leben, so Wüstel. Damit einher ging eine „kalte Erziehung“ ihrer Kinder. Dabei bezieht er sich auf die Schilderungen der Trauma-Erben, die ihr Elternhaus vielfach als „emotionsfreien Raum“ beschreiben. Sie erlebten Druck und ein Übermaß an Pflicht- und Ordnungsbewusstsein. 

Therapeuten sehen sich in ihren Erkenntnissen durch neue Forschungsergebnisse aus der Epigenetik bestärkt, wodurch nun gesichert scheint, dass schockierende oder lang andauernde extreme Erfahrungen das menschliche Gehirn markieren. Demnach werden kulturelle Einflüsse und Erfahrungen biologisch vererbt. Darauf gestützt, liefert Wüstel mit seinem leicht verständlichen Buch eine überzeugende Erklärung dafür, warum so viele Menschen bis heute in das vom Krieg herrührende Erinnerungserbe eingebunden sind und warum es in der Nachkriegsgeneration so viele unsicher gebundene Personen gibt: „Schon hiermit umzugehen ist für die Kriegsenkel ein schweres Erbe. Zusätzlich übernehmen viele von ihnen auch noch die Trauma-Folgen ihrer Eltern. Hier spielen neben Lernerfahrungen auch Veränderungen der Erb-information eine bedeutende Rolle.“ Das ist faszinierend und spannend zu lesen.

Jens-Michael Wüstel: „Traumakinder. Warum der Krieg immer noch in unseren Seelen wirkt“, Bastei Lübbe Verlag, Köln 2017, gebunden, 336 Seiten, 20 Euro