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02.02.18 / Verspätete Geburtstagsfeier in Russland / 100. Jahrestag des Anlasses des »Tages des Verteidigers des Vaterlandes«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-18 vom 02. Februar 2018

Verspätete Geburtstagsfeier in Russland
100. Jahrestag des Anlasses des »Tages des Verteidigers des Vaterlandes«
Wolfgang Kaufmann

Der 23. Februar wird in Russland als „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ gefeiert. Die Ursache ist, dass die sowjetische Propagandamaschinerie der Welt jahrzehntelang glauben machen wollte, dass am 23. Februar 1918 die Rote Armee gegründet worden sei. In Wirklichkeit verhielt es sich vor 100 Jahren jedoch etwas anders.

Anfang 1918 standen die Bolschewikij trotz ihrer erfolgreichen Machtergreifung im November des Vorjahres vor zwei existenzbedrohenden Problemen: Zum einen zeichnete sich der Ausbruch eines erbitterten Bürgerkrieges ab, weil der bewaffnete Widerstand gegen den Umsturz in Petrograd nahezu täglich anwuchs. Zum anderen war abzusehen, dass das auf Zeitgewinn abzielende Vorgehen des Volkskommissars für äußere Angelegenheiten, Leo Trotzkij, bei den Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten in Brest-Litowsk neue Militärschläge der Mittelmächte zur Folge haben würde (siehe PAZ Nr. 49 vom 8. Dezember 2017).

Deshalb legten die Bolschewikij Mitte Januar 1918 eine „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“ vor, in der sie unter anderem die Bewaffnung der Massen forderten. Hieraufhin verabschiedete der Rat der Volkskommissare am 28. Januar sein „Dekret über die Gründung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee“. Darin hieß es: „Es hat sich die Notwendigkeit ergeben, eine neue Armee zu schaffen, die in der Gegenwart eine Stütze der Sowjetmacht, in nächster Zukunft das Fundament für die Ersetzung der ständigen Armee durch die Bewaffnung des ganzen Volkes und bei der künftigen sozialistischen Revolution in Europa eine Unterstützung bilden wird.“

Die praktische Umsetzung des Dekretes oblag Trotzkij, der ab dem 14. März 1918 auch offiziell als Volkskommissar für das Kriegswesen fungierte. Grund für die Ernennung waren Trotzkijs Erfahrungen als Organisator der „Kampfverbände der Roten Garde“, einer bolschewistischen Miliztruppe von etwa 20000 Mann. Diese bildete den Grundstock der Roten Armee, reichte aber in keiner Weise aus, um das Sowjetsystem ausreichend nach innen und außen zu sichern. Deshalb griff Trotzkij in starkem Maße auf zaristische Militärs zurück, darunter Obristen und Generäle wie Michail Bontsch-Brujewitsch, Dmitrij Parskij und Jukums Vacietis. Letzterer avancierte sogar im September 1918 zum Oberbefehlshaber der Roten Armee. Am Ende dienten etwa 75000 vormalige Offiziere des Zaren Seite an Seite mit Berufsrevolutionären, Arbeitern und Bauern in den Streitkräften der Bolschewikij.

Die dergestalt zusammengewürfelte Truppe sollte zunächst nur aus Freiwilligen bestehen und ohne Dienstgrade auskommen. Diejenigen, die die Kommandos gaben, wurden demokratisch gewählt. Sowohl die Diskussion als auch die Ablehnung von Befehlen galt als legitim. 

Die Feuerprobe erlebte die Truppe am 18. Februar 1918. An jenem Tage startete das Deutsche Reich in Reaktion auf die russische Hinhaltetaktik in Brest-Litowsk die Operation Faustschlag und schickte 50 Divisionen über die Waffenstillstandslinie vom 15. Dezember 1917, um Narwa, Smolensk und Kiew einzunehmen. Binnen zwei Wochen konnten die Deutschen 500 Kilometer nach Osten vorstoßen. Das löste bei der bolschewistischen Führung Panik aus. 

Am 23. Februar 1918 konstatierte Lenin während einer Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees mit Blick auf das gerade erhaltene Ultimatum zur unverzüglichen Annahme der deutschen Friedensbedingungen: „Die Sowjetmacht muss die volle Unmöglichkeit des Widerstandes gegen die Deutschen feststellen. Man hat uns das Knie auf die Brust gesetzt.“ Am selben Tag wurden in Petrograd und Moskau im Anschluss an Massendemonstrationen erstmals in größerem Umfang Freiwillige als Soldaten rekrutiert. Außerdem gelang es, vier der bei Pskow und Narwa stehenden Einheiten, darunter zwei Regimenter der 70. Roten Infanterie-Division und der 15. Roten Kavallerie-Division, an jenem 23. Februar gegnerische Truppenteile bei deren Vormarsch in Richtung Petrograd aufzuhalten. Deshalb kürte Lenin den 23. Februar vier Jahre später zum „Tag der Roten Armee“, und Josef Stalin erhob ihn 1943 explizit zum Gründungstag der Roten Armee. Aus dem „Tag der Roten Armee“ wurde 1949 der „Tag der Sowjetarmee und Seestreitkräfte“ und 1991 der „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“.

Diesem gefeierten Teilerfolg vom 23. Februar 1918 stehen viele gravierende Misserfolge im selben Frontabschnitt gegenüber, von denen das bolschewistische Zentralorgan „Prawda“ am 25. Februar 1918 in dem Artikel „Eine schwere, aber notwendige Lehre“ berichtete: „Wir bekommen qualvoll-schändliche Mitteilungen über die Weigerung, … die Verteidigungslinie bei Narwa zu halten, und darüber, dass der Befehl, beim Rück­zug alles zu vernichten, nicht ausgeführt wird, ganz zu schweigen von Flucht, Chaos, Kurzsichtigkeit und Schlamperei.“ Deshalb fiel Pskow denn auch bereits zwei Tage später, am 25. Februar 1918, und Narwa folgte nur drei Tage später. Ähnlich sah es andernorts aus. Deswegen sahen die Bolschewikij sich schließlich gezwungen, am 3. März 1918 den Diktatfrieden von Brest-Litowsk zu unterzeichnen, der ihnen schmerzhafte Gebietsverluste bescherte.

Wirkliche Erfolge sollte die Rote Armee erst erzielen, nachdem Trotzkij einschneidende Reformen eingeleitet hatte. Die Ideale von Gleichheit, Demokratie und Freiheit/Freiwilligkeit wurden aufgegeben. Militärische Ränge und Abzeichen wurden wieder eingeführt. Die Wahl der kommandierenden Kader wurde abgeschafft. Und ab dem 29. Mai 1918 galt für Männer vom 18 bis zum 40. Lebensjahr die allgemeine Wehrpflicht. Dadurch wuchs der Personalbestand der Roten Armee bis 1920 von anfänglich etwa 200000 auf rund fünf­ein­halb Mil­lio­nen Mann an. Das versetzte die Rote Armee in die Lage, sich im bis zum Juni 1923 andauernden Bürgerkrieg durchzusetzen und sowohl die Weiße Armee als auch die ausländischen Interventionstruppen zu besiegen, was zur Zementierung der Macht der Bolschewikij führte.