Er verfügt über eine seltene Begabung: Der Ich-Erzähler des Romans „Physik der Schwermut“ kann sich in Tiere und Dinge hineinversetzen und ihren Schmerz und Leid nachempfinden. So erlebt er sich als Minotauros, dem Wesen mit menschlichem Körper und einem Stierkopf der griechischen Sage, das gefangen im Labyrinth auf Kreta gehalten wurde. Wie der Minotauros in seinem Gefängnis, sieht der Junge sich in der provinziellen Welt einer bulgarischen Kleinstadt gefangen.
So erklärt sich auch sein Hang zur Melancholie: Er leidet an einem Übermaß an Empathie. Als er in die Rolle seines Großvaters schlüpft, erlebt er sein Urtrauma: Als kleiner Junge sah sein Großvater auf dem Jahrmarkt einen gleichaltrigen verwachsenen Jungen, der in einem Monstrositätenzelt ausgestellt war und den er als Minotauros wahrnahm.
Der Minotauros-Mythos zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben des Erzählers. Überall begegnet er ihm, und er sieht den Minotauros zu einem zu Unrecht als Monster Verunglimpften. Für ihn ist er ein von seinen Eltern eingesperrter Junge.
Mit der Zeit verliert der Erzähler seine Gabe. Er beginnt, die Geschichten anderer zu sammeln und sie als Zeitkapsel in Kisten aufzubewahren. Die Physik der Schwermut liegt allem zugrunde: „Die Schwermut hat wie Gase und Dämpfe kein eigenes Volumen und keine eigene Form, sondern nimmt die Form und das Volumen des Gefäßes oder Raumes ein, den sie erfüllt.“
Der Autor Georgi Gospodinov, der heute in Sofia lebt, erzählt keine durchgehende Handlung, sondern wandelt durch das Labyrinth der Geschichte der Philosophie und Kultur auf der Suche nach einem Sinn. Die Buchkapitel füllen Gedanken- und Geschichtensplitter. Es ist die Tiefe der Gedanken, die den Leser fesselt.
Georgi Gospodinov: „Physik der Schwermut. Roman“, dtv, München 2016, broschiert, 334 Seiten, 9,90 Euro