29.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
23.02.18 / Wurzeln gekappt / Kritische Betrachtung des Entwurfs für einen neuen Traditionserlass der Bundeswehr

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 08-18 vom 23. Februar 2018

Wurzeln gekappt
Kritische Betrachtung des Entwurfs für einen neuen Traditionserlass der Bundeswehr
Gerd Schultze-Rhonhof

Wer seine Wurzeln kappt, fällt eines Tages um. Ein neuer Traditionserlass für die Bundeswehr nach dem von 1982 ist überfällig, weil sich dessen Bezugsgrößen schon lange grundsätzlich verändert haben. So ist ein Entwurf für einen neuen Erlass seit November 2017 in Umlauf.

Traditionen sind von Generation zu Generation überlieferte Verhaltensweisen, Ideen und Kulturen. Deutsche Armeen und ihre Geschichte gibt es, solange es deutsche Staatlichkeit auf deutschem Boden gibt. Dabei waren alle deutschen Armeen in ihrer Zeit an ihre Staatsherrschaft gebunden und an deren politische Systeme und Verfassungen. 

Drei politische Traditionen deutscher Streitkräfte seit jeher sind Staatstreue, Verfassungstreue und die Anerkennung des Primats der Politik. Wenn allerdings – wie im Entwurf geschehen – die Verfassungsdienlichkeit zur heutigen Verfassung mit „Alleinvertretungsanspruch“ ausgestattet wird, wird sie zur Falle für alle anderen militärischen Traditionen. Der neue Erlassentwurf schneidet fast alle Traditionen der Bundeswehr de facto 1956 ab und erhebt sie zum Monopol-Traditionsstifter für sich selbst.

Dass deutsche Soldaten und Verbände ihre Aufgaben in ihren Epochen nach den damaligen Regeln und Gesetzen erfüllt haben, wertet sie an sich nicht ab, es sei denn, dass sie dabei aus heutiger Sicht Unwürdiges oder Verbrechen begangen hätten. So gibt es keinen Grund, einzelne Soldaten, Verbände oder militärische Ereignisse der Vergangenheit aus der Tradition der Bundeswehr auszuschließen, nur weil sie nicht dem Kontext des Grundgesetzes entsprechen. Auch heute dienen die Soldaten treu und dem Primat der Politik folgend, auch wenn ihnen klar ist, dass mancher Befehl nichts mit dem Grundgesetz zu tun hat. Die Soldaten des Heeres folgen politischen Aufträgen, obwohl die meisten wissen, dass Volk und Heimat nicht am Hindukusch verteidigt werden, und die Soldaten der Marine folgen politischen Aufträgen, obwohl die meisten wissen, dass sie zu Schlepper-Diensten auf dem Mittelmeer missbraucht werden. Das ist und war schon immer die Kehrseite der Treuepflicht der Soldaten gegenüber ihren Dienstherren. 

Ein Überbewerten von modernen Verfassungszielen verbunden mit einer Unterbewertung von Berufszielen und einer durchgehenden Ächtung früherer Soldatengenerationen ergibt ein politisches Bekenntnis zur politischen Moderne, aber kein geistiges Rüstzeug für eine Armee. Den Wert der Traditionen der Bundeswehr allein nach ihrer Verfassungsdienlichkeit zu beurteilen, ist so, als wollte man eine Menge fließenden Wassers mit einem Zollstock messen.

Der neue Erlassentwurf ist einer über die „Politischen Auflagen“ und keiner für die „Militärischen Traditionen der Bundeswehr“. Er taugt, wie sein Vorgänger, für den Exorzismus in der Truppe, aber nicht zu deren Inspiration und Motivierung. 

Es sollte unbedingt zwischen politischen Traditionen, beispielsweise in einem Vorwort des Erlasses, und militärischen Traditionen, beispielsweise im Hauptteil des Erlasses, unterschieden und letztere mit „Fleisch gefüllt“ werden.

Eine Reihe von Einzelformulierungen im Erlassentwurf ist halb wahr, ganz falsch oder besteht aus hohlen Phrasen. Sie entwerten den Erlass. Der neue Entwurf enthält schon am Anfang, wie der alte Erlass, ein paar Sätze, die durch die weiteren Ausführungen zu hohlen Phrasen werden:

„Tradition verbindet die Generationen.“ Die Ablehnung fast jeder Art von Tradition zu Soldaten, Truppen und Armeen vor 1945 und deren de facto Ächtung im Folgetext sind das Gegenteil davon.

„Tradition schlägt eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft.“ Dem Gedanken des Brückenschlags folgend, gehören beispielsweise die Reichswehr und die Wehrmacht als Übermittlerinnen von Werten, Tugenden, Berufserfahrungen und Berufseigentümlichkeiten aus fast 300 Jahren deutscher Militärgeschichte an die Bundeswehr mit in deren Traditionslinien. Sie haben die Brücke in die Epochen vor der Weimarer Republik und dem Dritten Reich geschlagen.

„Tradition stärkt den Rückhalt der Bundeswehr in der Gesellschaft.“ Die Bundeswehr hat keinen Rückhalt mehr in der Gesellschaft, bestenfalls noch da und dort freundliche Akzeptanz. Beispiele, angefangen vom „Soldaten sind Mörder-Urteil“ über örtliche Dienstbehinderungen und dem Zutrittsverbot für Jugendoffiziere in etlichen Schulen bis hin zu grölenden Störungen von Bundeswehr-Zeremoniellen in der Öffentlichkeit enthüllen diese Formulierung als Zeichen von Selbstbetrug oder Realitätsverlust.

„Die Wehrmacht hat einem Unrechtsregime gedient.“ Das ist eine in den Parteien übliche Fehlinterpretation. Die Wehrmacht hat genauso wenig dem Nazi-Regime gedient wie die Bundeswehr den CDU- oder den SPD-Regierungen. Reichswehr, Bundeswehr und NVA haben ihren jeweiligen Staaten gedient, ohne sich ihre Regierungen auszusuchen. Bei der Wehrmacht ist sogar noch zu beachten, dass sich der Oberbefehlshaber des Heeres gegen die Einsetzung Hitlers als Reichskanzler gewehrt hat. Die unkorrekte Formulierung lässt darauf schließen, dass die jetzige CDU-geführte Regierung davon ausgeht, dass die Bundeswehr auch ihr dient. Der Parteien-Irrtum, Staat und Regierung gleichzusetzen, darf sich nicht in einem neuen Traditionserlass wiederfinden.

Der Entwurf erwähnt zu Recht auch die schuldhafte Verstrickung der Wehrmacht in die Verbrechen des NS-Regimes. Die schuldhafte Verstrickung in Verbrechen stimmt. Aus einer „Verstrickung“ ein Kollektivurteil zu münzen und damit der Wehrmacht insgesamt die Ehre abzuschneiden, kommt aber einer Kollektivstrafe gleich, die es in unserem Rechtssystem nicht geben sollte. Es ist nicht angemessen, diese „Verstrickung“ kollektiv allen Angehörigen und Truppen der deutschen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg anzulasten. Immerhin liegt der Anteil der von deutschen und Besatzungsgerichten nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute wegen Kriegsverbrechen rechtskräftig verurteilten Soldaten bei nur 0,05 Prozent des damaligen Gesamtbestandes. Es empfiehlt sich deshalb, einem neuen Traditionserlass in dieser Hinsicht die Schärfe der Verurteilung zu nehmen.

Dahingegen gibt die Kriegsgeschichte der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg auch eine lange Reihe von Beispielen ritterlichen Handelns und Betragens von deutschen Soldaten und Dienststellen in den Gefechten und als „Sieger“ in Polen, Frankreich, Griechenland, Russland und auf dem Atlantik her. Solche Beispiele hat die Bundeswehr als vorgesehener Monopol-Traditionsgeber in ihrer Geschichte nicht zu bieten. Wer das als Nazi-Propaganda abtut, sollte einmal eine Zeit lang lesend im Archiv des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Genf zubringen.

Die Formulierung von „Verbrechen, ... die in ihrem Ausmaß, in ihrem Schrecken und im Grad ihrer staatlichen Organisation einzigartig in der Geschichte sind“, mag gängigem „Volkswissen“ entsprechen. Sie ist dennoch schlichtweg falsch. Da die Formulierung auf die „Geschichte“ bezogen ist und nicht auf einen kurzen Zeitraum deutscher Geschichte, unterschlägt sie die staatlich verursachten Verbrechen mit Millionen von Toten in der überschaubaren Vergangenheit. Da gab es beispielsweise die geschätzten acht bis zehn Millionen toten Kongolesen als Opfer belgischer Gewaltherrschaft in Afrika, die sechs bis acht Millionen toten Ukrainer als Opfer sowjetischer Gewaltherrschaft, die etwa 50 Millionen toten Indianer als Opfer spanischer, englischer und US-amerikanischer Expansionspolitik in Nord- und Südamerika, die sechs Millionen toten Inder und Bengalen im Zweiten Weltkrieg als Hunger- und Gewaltopfer rücksichtsloser Ausbeutung der Briten im Mittleren Osten. Auch in diesem Punkte muss der neue Traditionserlass seriös und bei der vollen Wahrheit bleiben und Übertreibungen wie die „Einzigartigkeit“ vermeiden.

Der Erlassentwurf besagt zwar zu Beginn, „Traditionspflege ermöglicht das Bewahren … von Vorbildern, ...“. Dieser scheinbaren Offenheit folgt dann bald der Widerruf. Dort heißt es: „Historische Beispiele für zeitlos gültige Tugenden, etwa Tapferkeit, Ritterlichkeit und ... können in der Bundeswehr Anerkennung finden. Sie sind jedoch immer im historischen Zusammenhang zu bewerten und nicht zu trennen von den politischen Zielen, denen sie dienten.“ Somit ist auch auf diesem Feld die Tradition der Bundeswehr mit dem Jahr 1956 abgeschnitten. Damit fallen frühere Soldaten wie der Reitergeneral von Seydlitz, die Generalstabsoffiziere Graf Gneisenau und Graf Moltke d. Ä., die Fliegeroffiziere von Richthofen und Marseille und Marschall Rommel durch den Rost. Die Bundeswehr hat vergleichbare Vorbilder in ihrer eigenen Geschichte nicht hervorgebracht. Der motivierende und selbsterzieherische Wert von historischen Berufsvorbildern würde damit vor allem für jüngere Berufssoldaten, die noch ihre „Selbstvergewisserung“ und ihre „Identifikation“ suchen, verboten und verbaut. Durch die Einschränkung würde ein neuer Erlass zum Traditions-Verhinderungs-Erlass.

Im Fehlen der Vorbildrolle in der Traditionspflege liegt der gravierendste Mangel des Entwurfs für einen neuen Traditionserlass.

Ein weiterer gravierender Mangel ist jegliches Fehler der Erwähnung des „Nationalen Bewusstseins“. Letzterem war im ersten Vorgängererlass von 1965 noch ein eigener Absatz gewidmet.

Die deutsche Regierungspolitik war bis zur Wiedervereinigung sowohl in Europa als auch in der atlantischen Verbindung angemessen verwoben, und sie hat dabei deutsche Interessen angemessen vertreten. Danach war sie unter „christlichen“ Regierungen europazentriert und erkennbar bemüht, Deutschland als Teil in einem Gesamtstaat EU aufgehen zu lassen. Dementsprechend hat sich die Bundeswehr angepasst. In den Bundeswehr-Veröffentlichungen ist seither keine Rede mehr von der deutschen Nation. Stattdessen stehen Multinationalität, Inklusion, Vielfalt und die mögliche Aufnahme von Ausländern im Vordergrund der Selbstdarstellung. Hier wiederholt die Bundeswehr den fatalen Fehler Stalins, der zunächst geglaubt hatte, mit einer internationalistischen und ideologisch ausgerichteten Armee Krieg führen zu können. Als der Sowjetunion das deutsche Messer am Hals lag, „erfand“ er den Vaterländischen Krieg und mobilisierte damit die Kräfte, die noch im deutschen Traditionserlass von 1965 beschworen wurden. Ein neuer Traditionserlass muss hier die inzwischen klaffende Lücke wieder schließen. Ein Erlass für Soldaten darf nicht nur das „Tagesgeschäft“ der Auslandseinsätze bedenken. Er muss auch das Urmotiv der Staatsbürger in Uniform beleben, notfalls für die eigene Nation, den eigenen Staat und die eigene Heimat zu kämpfen. Die zunehmende internationale Verflechtung der Bundeswehr sollte nicht zu einer mentalen Entnationalisierung ihrer deutschen Anteile führen und nicht den derzeitigen Trend der deutschen Politik der eigenen Entnationalisierung widerspiegeln.

Ein neuer Erlass in der vorgeschlagenen Form zeigt vor allem die Grenzen der politisch erlaubten Traditionspflege und weniger das sinnvolle Spektrum sinnvermittelnder Militärtraditionen. Er wäre nicht dazu geeignet, den Soldaten der Bundeswehr eine militärische „Corporate Identity“ zu geben.






Gerd Schultze-Rhonhof, der Autor ist Generalmajor a.D. In seiner letzten Funktion war er Divisionskommandeur und Wehrbereichsbefehlshaber. 1996 schied er nach 37 Jahren auf eigenen Wunsch aus dem aktiven Dienst aus. Danach setzte er sich in mehreren Werken kritisch mit der Bundeswehr und der Geschichtsschreibung in Deutschland auseinander. Im Jahre 2012 verlieh ihm die Landsmannschaft Ostpreußen ihren Kulturpreis für Wissenschaft.