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22.06.18 / Das Kalifat der Terroristen / Der IS-Führer lässt sich als Kalif und »Führer aller Gläubigen« titulieren – mit nicht weniger Recht als seine vielen Vorgänger

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-18 vom 22. Juni 2018

Das Kalifat der Terroristen
Der IS-Führer lässt sich als Kalif und »Führer aller Gläubigen« titulieren – mit nicht weniger Recht als seine vielen Vorgänger
Wolfgang Kaufmann

Am 29. Juni 2014 meldete der sogenannte Islamische Staat in seinem Online-Magazin „Dabiq“ die Ernennung des Anführers der Terrororganisation, Ibrahim Awad Ibrahim al-Badri, zum Kalifen und „Führer aller Gläubigen“. Seitdem wird immer wieder behauptet, dass dem nunmehr als Abu Bakr al-Baghdadi auftretenden Iraker jedwede Legitimation als Kalif fehle. Dabei zeigt ein Blick auf die Geschichte der Institution des Kalifats eher das Gegenteil.

„Kalif“ ist die deutsche Form des arabischen Wortes „Chalifa“, also „Stellvertreter“ oder „Nachfolger“. Im Islam sind damit politisch-religiöse Führer gemeint, welche an die Stelle des Propheten Mohammed traten, der am 8. Juni 632 gestorben war. Deshalb lautete deren vollständiger Titel auch meist „Chalifat rasul Allah“, das heißt „Nachfolger des Gottgesandten“.

Allerdings finden sich weder im Koran noch in den überlieferten Aussprüchen Mohammeds irgendwelche Bestimmungen über die Aufgaben und Funktionen eines Kalifen. Somit blieb offen, wem genau das Amt und der Titel zustanden, zumal kein naturgegebener Nachfolger des Propheten existierte, weil dieser keine männliche Nachkommenschaft hatte. Vor diesem Hintergrund kristallisierten sich in den turbulenten Tagen nach dem Tode des Begründers des Islam zwei relativ gleichwertige Kandidaten heraus, nämlich Abu Bakr Abdallah ibn Abi Quhafa as-Siddiq, der Schwiegervater des Propheten, und Abu l-Hasan Ali ibn Abi Talib, ein Vetter Mohammeds und Ehemann von dessen vierter Tochter Fatima. Hieraus resultierte am Ende die bis heute anhaltende Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten, da letztere nicht akzeptieren wollten, dass Abu Bakr das Rennen machte – also jener frühe Kampfgefährte des Propheten, dessen Namen nun auch der IS-Kalif trägt.

Dabei erfüllte der Abu Bakr des 7. Jahrhunderts keineswegs alle Kriterien, welche von den Muslimen seinerzeit für den rechtmäßigen Nachfolger des Propheten aufgestellt worden waren. So gehörte der erste Kalif zwar genau wie Mohammed zum arabischen Stamm der Quraisch, zählte jedoch nicht zu den Blutsverwandten des „Gottgesandten“, was viele Gläubige gleichermaßen für zwingend notwendig hielten. Der frühere Stoffhändler Abu Bakr konnte sich lediglich dadurch qualifizieren, dass er zu den aller­ersten Muslimen überhaupt gehört und viele andere zum Islam bekehrt hatte. Außerdem war er der einzige Begleiter Mohammeds bei dessen Auswanderung nach Yathrib (später Medina) gewesen. Dies führte letztlich zur per Akklamation vollzogenen Ernennung Abu Bakrs durch verschiedene Clans der Quraisch, allen voran die Banu Aslam, Machzum und Sahm. Dahingegen opponierten die Parteigänger von Ali ibn Abi Talib sowie die Clans der Banu Haschim und Umayyaden gegen den ersten Kalifen, was zu einer Art Bürgerkrieg unter den Muslimen führte.

Das heißt, Abu Bakrs Einsetzung erfolgte nicht im Konsens aller Gläubigen, wie es immer wieder gefordert worden war. Insofern sind ähnlich gelagerte Vorwürfe an die Adresse des heutigen Kalifen – so beispielsweise seitens von 120 islamischen Gelehrten aus aller Welt – faktisch gegenstandslos: Abu Bakr al-Baghdadi, dessen Beiname al-Qureishi besagen soll, dass er wie hunderttausende andere Araber auch den Quraisch entstammt, fehlt zwar tatsächlich das einmütige Mandat der Muslime rund um den Globus, aber das war bei seinem historischen Vorbild um keinen Deut anders.

Und die folgenden Kalifen gelangten ebenfalls auf ganz unterschiedliche Weise in Amt und Würden – ungeachtet dessen, was mancher islamischer Gelehrte späterhin in seinen staatstheoretischen Abhandlungen als Idealverfahren proklamierte: Abu Bakrs Nachfolger Umar ibn al-Chattab und Uthman ibn Affan, also die Kalifen Zwei und Drei, wurden jeweils von ihren Amtsvorgängern vorgeschlagen und dann von einem winzig kleinen Gremium engster Anhänger des Propheten bestätigt.

Dahingegen erfolgte die „Wahl“ des vierten Kalifen – diesmal kam nun endlich Ali ibn Abi Talib zum Zuge – unter noch chaotischeren Umständen als die von Abu Bakr. Nach dem Lynchmord an Uthman am 17. Juni 656 durch ägyptische Rebellen leisteten diese Ali den Treueeid und forderten ihn ultimativ auf, das Kalifat zu übernehmen, was er schließlich nach fünftägigem Zögern tat. 661 starb jedoch auch Mohammeds Vetter durch Mörderhand, wo­raufhin sich der Umayyade Muawiya ibn Abi Sufyan zum Kalifen erhob und die erste diesbezügliche Dynastie begründete. Außerdem sollte der nunmehr durch Usurpation beziehungsweise dann später aufgrund seines Ranges in der Erbfolge automatisch ins Amt gelangende Kalif nicht mehr als Stellvertreter des Propheten fungieren, sondern als „Chalifat Allah“, also „Gottes Statthalter“.

Die Dynastie der Umayyaden, in deren Zeit das Kalifat seine größte territoriale Ausdehnung erreichte hatte, verschwand 749/50 von der Bühne der Weltgeschichte, als die Abbasiden die Macht übernahmen. Sie erhoben Bagdad zum Zentrum des Kalifenreiches und bestimmten ihre Nachfolger nun auf testamentarische Weise – wichtig war dabei insbesondere die Zugehörigkeit des Kandidaten zur Familie des Propheten. Allerdings verloren die Abbasiden ab dem 10. Jahrhundert sukzessive an politischem Einfluss, wofür nicht zuletzt die Existenz der konkurrierenden Gegenkalifate der Fatimiden in Nordafrika und Umayyaden in Córdoba verantwortlich war. Das definitive Ende des Kalifats der Abbasiden kam allerdings erst 1517 infolge der Eroberung Kairos durch die Osmanen.

Deren Herrscher wiederum verzichteten zunächst auf den Kalifentitel – sie konnten ja auch schlecht behaupten, von den Quraisch abzustammen –, bis sich Sultan Abdülhamid I. schließlich 1774 eines Besseren besann, weil er unbedingt als Schutzherr aller Muslime in Russland sowie rund um die Welt auftreten wollte. Das nachfolgend ebenfalls dynastisch verankerte osmanische Kalifat existierte bis 1924, dann beschloss die türkische Nationalversammlung in Ankara, es abzuschaffen, woraufhin der vorerst letzte Kalif, der zuvor bereits auch als Sultan entthronte Abdülmecid II., nach Frankreich emigrierte.

Aus all dem geht zweifelsfrei hervor, dass es zu keinem Zeitpunkt während der letzten 14 Jahrhunderte nach dem Tode des Propheten Mohammed ein von allen Muslimen akzeptiertes und auch theologisch unstrittiges Auswahlverfahren für Kalifen gab. Insofern ist der vom sogenannten Islamischen Staat installierte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi weder schlechter noch besser legitimiert als seine zahlreichen Vorgänger.