Ein Russe hat in Berlin die Absicht, eine Mauer zu errichten. Das Kunstprojekt ist die umstrittenste Aktion im Rahmen der Berliner Festspiele.
Umstritten ist es jetzt schon. Kritiker betiteln es als „stalinistisches Disneyland“ und Befürworter als spektakulärstes Kunstereignis seit der Reichstagsverhüllung des Künstler-Ehepaares Christo und Jeanne-Claude. Berlin hat schon vieles ertragen müssen. Ob die Hauptstadt nun auch noch das Film- und Kunstprojekt „DAU Freiheit“ unbeschadet überlebt, ist noch ungewiss. Ebenso ungewiss ist bis jetzt auch noch, ob das „gesellschaftliche Experiment, das die Wahrnehmung Berlins verändern wird“, so die Veranstalter, überhaupt rechtzeitig genehmigt werden kann.
Vom 12. Oktober bis zum 9. November soll ein ganzes Straßenviertel am Boulevard Unter den Linden zum Kunstprojekt erhoben werden. Der russische Filmemacher Ilja Chrschanowskij möchte auf diese Weise Diktatur erlebbar machen. In der Mitte Berlins soll dabei eine Mauer mit 430 Mauerteilen in Originalgröße ein ganzes Stadtviertel für vier Wochen abgrenzen. Besucher erwerben keine Eintrittskarten, sondern beantragen Visa im Internet.
Man erhält ein Visum, nachdem man persönliche Daten abgegeben, also einen Fragebogen beantwortet hat. Kostenpunkt ist fast wie in alten Zeiten 25 Euro für ein Tagesvisum, 15 Euro für einen zweistündigen Besuch, und 45 Euro zahlt, wer ein Diplomatenvisum erwirbt. Das Handy wird am Eingang abgegeben, um die Verbindung zum Heute zu kappen. Das ausgehändigte Smartphone ist ohne Netzanschluss und erstellt mittels einer App für jeden eine individuelle Reiseroute.
Betritt man den Kunstraum unter freiem Himmel, erinnert das Szenario an die Zeit des „Kalten Krieges“ mit Mauer und Wachtürmen. Besucher sollen hier die Erfahrung des Freiheitsverlustes machen und über Totalitarismus und Überwachung sinnieren. Provokant dabei: die Errichtung der temporären Mauer mitten unter den Linden.
Ursprünglich beantragte der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, in Zusammenarbeit mit Chrschanowskij, am 13. August ein Areal, das vom Kronprinzenpalais bis zur Spree reichte und das Gelände der Staatsoper mit einschloss. Der Zugang zur „Stadt in der Stadt“ sollte über die Tiefgarage unterm Bebelplatz sein. Dieser Antrag ist nach heftiger Kritik seitens der Behörden, allen voran des grünen Bezirksbürgermeisters von Berlin-Mitte, Stephan von Dassel, der die kurze Vorlaufzeit für die umfangreichen sicherheitsrechtlichen Prüfungen kritisierte, vom Tisch. Die Berliner Festspiele legten daraufhin ein modifiziertes Konzept vor, sodass das „DAU-Projekt“ nun wesentlich kleiner ausfallen wird als geplant. So sollen die Staatsoper und die Barenboim-Said-Akademie außen vor bleiben.
Dennoch könnte das Projekt insgesamt scheitern, da wegen der 2,75 Tonnen schweren und 3,70 Meter hohen Segmente die Belastbarkeit des Untergrundes genau geprüft werden muss. Während sich Kulturstaatsministerin Monika Grütters und Berlins Bürgermeister Michael Müller begeistert zeigen von diesem „Weltereignis“ und die Freiheit der Kunst rühmen, regt sich auch unter Prominenten, Berliner Bürgern und ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern wie Konrad Weiß Widerstand. In einem offenen Brief an Müller und Grütters mahnte Weiß an, dass ein Stück Berlin neuerlich mit einer Mauer zu schänden, für ihn unerträglich sei (siehe PAZ vom 14. September).
Die ganze Idee beruht auf Filmarbeiten des Regisseurs Chrschanowskij über den Physiker und Nobelpreisträger Lew Landau (1908–1968), dessen Spitzname kurz „Dau“ war. Von 2009 bis 2011 startete der Regisseur in Charkiw in der Ukraine ein besonderes Filmprojekt. Auf 12000 Quadratmetern schuf er „Das Institut“, einen Nachbau des Labors und Lebensraumes von Landau. Hier lebten bis zu 400 Menschen und gingen ihren alltäglichen Verrichtungen nach unter Totalüberwachung wie in Stalins Machtimperium. Daraus entstanden 700 Stunden Filmmaterial, 13 Spielfilme und mehrere Serien über eine Zeitreise durch 30 Jahre Sowjetgeschichte. Das Material wird im Rahmen des „DAU-Projektes“ in Berlin erstmals vorgeführt. Den Gästen wird durch eine Großinstallation eine künstlich geschaffene Realität gezeigt. Am 9. November, dem Tag des Mauerfalls, soll der Mauernachbau niedergerissen werden.
In Berlin gibt es den Auftakt des dreiteiligen Projektes unter der Bezeichnung „Freiheit“. Danach können Besucher in Paris die Installation „Gleichheit“ und in London die Veranstaltung „Brüderlichkeit“ erleben.
Die Berliner Festspiele realisieren das ganze Jahr über eine Vielzahl von Festivals, Ausstellungen und Veranstaltungen in ihren Häusern in der Schaperstraße und dem Martin-Gropius-Bau, aber auch an anderen Orten der Stadt. „Neues sichtbar zu machen“, haben sich die Macher auf ihre Fahnen geschrieben, und sie agieren damit auch ganz im Sinne des Festivalintendanten Oberender, der seit 2012 dabei ist und zwischen 2006 und 2011 Schauspieldirektor bei den Salzburger Festspielen war.
Das diesjährige Musikfest Berlin hat anlässlich des 100. Geburtstags von Bernd Alois Zimmermann und des 100. Todestages von Claude Debussy zentrale Werke dieser Komponisten präsentiert. Das Konzertleben Berlins startete damit in die neue Spielzeit. Das Jahresprogramm umfasst unter anderem die neue Kunst für Planetarien „Immersion“ (26. September bis 14. Oktober in einer mobilen Kuppel auf dem Mariannenplatz), das Jazzfest Berlin (1. bis 4. November im Haus der Berliner Festspiele), das Theatertreffen (3. bis 19. Mai 2019), die MaerzMusik, eines der wichtigsten Festivals für neue Musik in Deutschland (22. bis 30. März 2019), außerdem Bundeswettbewerbe für Jugendliche zum Thema Theater, Tanz, Musik und kreatives Schreiben.
Besonders erwähnt seien hier noch die Ausstellungen im Martin-Gropius-Bau, wo noch bis zum 7. Januar 2019 die auf dem spektakulären Kunstfund basierende Schau „Bestandsaufnahme Gurlitt“ präsentiert wird. Archäologische Neufunde und interessante Perspektiven zu alten Funden zeigt die Ausstellung „Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland“ vom 21. September bis 6. Januar 2019.
Infos: www.berlinerfestspiele.de