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19.10.18 / Eine eigene Republik für die Wolgadeutschen / Vor 100 Jahren wurde der »erste sozialistische deutsche Staat« als »Arbeitskommune« gegründet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-18 vom 19. Oktober 2018

Eine eigene Republik für die Wolgadeutschen
Vor 100 Jahren wurde der »erste sozialistische deutsche Staat« als »Arbeitskommune« gegründet
Wolfgang Kaufmann

Vor 100 Jahren entstand im Nachgang zur bolschewistischen Revolution in Russland eine autonome „Arbeitskommune des Gebietes der Wolgadeutschen“, die 1924 zur eigenständigen Sowjetrepublik aufgewertet wurde. Deren Todesstunde schlug jedoch schon im Sommer 1941 mit Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges. 

Durch ihre Manifeste vom 4. Dezember 1762 und 22. Juli 1763 initiierte die russische Zarin Katharina die Große die Gründung von Kolonien im damals noch wenig besiedelten Wolgagebiet. In­fo­lge­des­sen strömten zwischen 1764 und 1773 um die 23200 deutsche Siedler in den Raum flussauf- und flussabwärts von Saratow, in dem sie insgesamt 105 Niederlassungen gründeten. Bis zur Volkszählung von 1897 stieg die Zahl der Deutschen auf 407500, wobei ihr Siedlungsgebiet nun eine Größe von rund 30000 Quadratkilometern hatte, was der Fläche des heutigen Belgien entspricht. Die Kolonisten erfreuten sich im Zarenreich einer relativ großen Selbstständigkeit und hofften, diese nach der Oktoberrevolution zu behalten. Und tatsächlich schien die „Deklaration über die Rechte der Völker Russlands“ vom 2. November 1917 den Wolgadeutschen in jeder Hinsicht entgegenzukommen.

Um die nun scheinbar sichergestellten Autonomierechte – einschließlich des Rechts auf einen eigenen Staat – einzufordern, brachen im April 1918 zwei Delegationen aus dem Wolgagebiet nach Moskau auf. Die eine kam als Abordnung des 1917 gegründeten Bundes deutscher Sozialisten an der Wolga. Die andere bestand aus bürgerlich-liberalen Vertretern der Deutschen, die im Februar auf einem Kongress in Warenburg (Priwolnoje) gewählt worden waren. Beide Gruppen wollten bei Josef Stalin vorsprechen, der zu dieser Zeit als Volkskommissar für Nationalitätenfragen fungierte. Wie kaum anders zu erwarten, fanden die bürgerlichen Demokraten kein Gehör. Stalin empfing am 18. April nur die Sendboten der Sozialisten und etablierte im Anschluss daran ein provisorisches Kommissariat für wolgadeutsche Angelegenheiten, das für die Umgestaltung des Wolgagebietes im Sinne der Bolschewiki sorgen sollte. Mit der „revolutionären Leitung“ wurden nicht etwa Vertreter der ortsansässigen Bevölkerung betraut, sondern der Reichsdeutsche Ernst Reuter und der Österreicher Karl Petin. Die beiden „erprobten Kommunisten“ gingen sofort daran, alle noch existierenden bürgerlichen Institutionen aufzulösen und die Sowjetisierung des Wolgagebietes voranzutreiben. In diesem Zusammenhang trat am 30. Juni 1918 der 1. Sowjetkongress der Wolgadeutschen Kolonien zusammen, der eine autonome „Föderation der Arbeiter- und Bauernräte der deutschen Kolonien im Wolgagebiet“ proklamierte.

Die hiermit verkündete Selbstständigkeit des Gebietes durch Anhänger beziehungsweise Vertreter der Bolschewiki wurde am 19. Oktober 1918 formell anerkannt. An jenem Tage unterzeichnete der Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin als Regierungschef der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) das „Dekret des Rats der Volkskommissare über die Bildung des Gebiets der Wolgadeutschen“. Dessen erster Punkt lautete: „Die Ortschaften, die von den deutschen Kolonisten des Wolgagebietes besiedelt werden und sich gemäß Statut des Kommissariats des Wolgagebiets in Kreisdeputiertensowjets herausgelöst haben, bilden in Anwendung des Artikels 11 des Grundgesetzes der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik eine Gebietsvereinigung mit dem Charakter einer Arbeitskommune, in deren Bestand die entsprechenden Teile der Territorien der Kreise Kamyschin und Atkarsk des Gouvernements Saratow und der Kreise Nowousensk und Nikolajewsk des Gouvernements Samara eingegliedert werden.“

An die Gründung der „Arbeitskommune“ knüpfte die bolschewistische Führung in Moskau vielfältige Erwartungen. Zum Ersten spekulierte sie darauf, die Region als Kornkammer nutzen zu können, wobei die Autonomieversprechen für eine höhere Motivation der Bauern sorgen sollten. Zum Zweiten hoffte Moskau, die Abwanderung von deutschen Arbeitskräften zu stoppen, die infolge des Friedensvertrages von Brest-Litowsk eingesetzt hatte, weil der die Möglichkeit der Übersiedlung von Wolgadeutschen ins Reich vorsah. Menschen wurden im jungen Sowjetstaat dringend gebraucht, sowohl auf den Feldern als auch in den militärischen Einheiten der Bolschewiki, die im Bürgerkrieg kämpften. Und zum Dritten ging es um die Vorbildfunktion der „Arbeitskommune“. Deren Existenz sollte den Kampfeswillen des „revolutionären Proletariats“ in Deutschland anfachen. 

Aus jenem Grund erfolgte dann zum 6. Januar 1924 auch eine Umwandlung der „Arbeitskommune“ in die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“, die nun großspurig als „erster sozialistischer deutscher Staat“ hingestellt wurde. Dort herrschten alles andere als die behaupteten paradiesischen Zustände. Wegen der rücksichtslosen Requirierung von Lebensmitteln und Pferden durch die Bolschewiki kam es wiederholt zu Aufständen, welche die Rote Armee mit gnadenloser Härte niederschlug. Dem folgten jeweils Hungersnöte und die massenhafte Auswanderung von Wolgadeutschen in andere Regionen Russlands oder in die Weimarer Republik. Die schlimmste Hungerka­tastrophe ereignete sich 1932/33. Sie war eine Konsequenz der ebenso brutalen wie ineffektiven Zwangskollektivierung. Bis 1933 starben einige hunderttausend Menschen in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) an der Wolga an Hunger. 

Bald darauf schwappte die Stalinsche Terrorwelle über das Land. Allein 1937/38 wurden 3632 Wolgadeutsche als „Helfershelfer der Faschisten“ erschossen. 

Der Ausbruch des Deutsch-sowjetischen Krieges bewirkte das Ende der Wolgadeutschen Republik. Der Oberste Sowjet in Mos­kau und das Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei ordneten an, sämtliche Deutsche in Russland wegen Kollaboration mit dem Feind nach Kasachstan oder Sibirien zu verbringen. Dem folgte am 7. September 1941 ein weiteres Dekret über die Auflösung der ASSR. Die Deportation der Wolgadeutschen betraf laut offizieller Verlautbarung des Kreml 446480 Menschen und dauerte kaum einen Monat.

Elf Jahre nach dem Tode Stalins erfolgte am 29. August 1964 die vollständige Rehabilitierung der Wolgadeutschen, was aber weder zur Wiederherstellung ihrer ASSR noch zur Rückführung der Verschleppten führte. Vielmehr scheiterten alle diesbezüglichen Versuche – selbst dann, als die Sowjetunion aufgehört hatte zu existieren. Nicht zuletzt deshalb übersiedelten zwischen 1990 und 2000 mehr als zwei Millionen Russlanddeutsche oder solche, die vorgaben, welche zu sein, in die Bundesrepublik.