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02.11.18 / Von der Diskriminierung zur Verfolgung / Vor 80 Jahren markierten die antisemitischen Ausschreitungen eine Verschärfung in der NS-Judenpolitik

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-18 vom 02. November 2018

Von der Diskriminierung zur Verfolgung
Vor 80 Jahren markierten die antisemitischen Ausschreitungen eine Verschärfung in der NS-Judenpolitik
Wolfgang Kaufmann

Vor 80 Jahren erlebte das Deutsche Reich eine Welle der Gewalt gegen Juden sowie deren Synagogen und Besitztümer, die sogenannte Reichskristallnacht. Dieser Begriff wurde ab 1988 zunehmend problematisiert und durch das Wort „Reichspogromnacht“ verdrängt. „Pogrom“, zu deutsch: „Krawall“ oder „Zerstörung“, stammt aus dem Russischen und stand ursprünglich für chaotisch-gewaltsame antisemitische Aktionen seitens größerer Bevölkerungsgruppen. Dass sich der Begriff zur präzisen Kennzeichnung der Vorgänge im November 1938 eignet, ist fraglich. 

Am Morgen des 7. November 1938 gab der polnische Jude Herschel Feibel Grynszpan in der Pariser Botschaft des Deutschen Reiches fünf Schüsse auf den dort tätigen Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath ab und verletzte ihn dadurch lebensgefährlich. Das war der zweite Mordanschlag eines Juden gegen einen deutschen Staatsvertreter nach dem Attentat von David Frankfurter auf Wilhelm Gustloff, den Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation in der Schweiz, im Februar 1936. Grynszpan rechtfertigte seine Tat später mit der Behandlung seiner Familie während der deutsch-polnischen Passkrise vom Oktober 1938. Damals hatte Polen versucht, mehrere tausend in Deutschland lebende eigene Staatsbürger jüdischer Herkunft loszuwerden, indem es deren Pässe kurzerhand für ungültig erklärte und diese Personen so zu Staatenlosen machte, woraufhin die deutsche Seite sie kurzerhand nach Polen abschob. 

In Reaktion auf die Schüsse von Paris fanden am Nachmittag des 7. November erste spontane Übergriffe von SA- und SS-Leuten gegen jüdische Einrichtungen im Raum Kassel, Bebra und Sontra statt. Dem folgten am 8. und 9. November weitere Ausschreitungen in den Landkreisen Fulda und Melsungen sowie in Dessau. Kurz nachdem Rath um 17.30 Uhr seinen Verletzungen erlegen war, ging auch die Synagoge von Chemnitz in Flammen auf.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die komplette NS-Führung in München versammelt, um des Jahrestages des gescheiterten Putsches von 1923 zu gedenken. Während der Zusammenkunft erhielt Adolf Hitler die Nachricht vom Tode des Diplomaten. Was daraufhin geschah, schilderte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in seinem Tagebucheintrag zum 9. November 1938 mit folgenden Worten: Der „Führer … bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen … Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei. Dann rede ich kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telephone. Nun wird das Volk handeln.“

Übereinstimmenden Berichten von Augenzeugen zufolge begannen die Parteigrößen, ihre Untergebenen gegen 22.30 Uhr fernmündlich zu instruieren, worauf die Ausschreitungen zunahmen. Allerdings ließ Goebbels bereits am frühen Morgen des Folgetages in halbstündlichen Abständen im Radio die Aufforderung verbreiten, „von weiteren Demonstrationen und Vergeltungsaktionen abzusehen“. Dem vorausgegangen waren Vorwürfe der NS-Größen Hermann Göring, Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich, Walther Funk und Alfred Rosenberg, die von Goebbels angeheizten „Vergeltungsmaßnahmen“ hätten zu einer „volkswirtschaftlich unsinnigen Zerstörung von Sachwerten geführt“. Dies illustriert die fehlende Einigkeit der NS-Führung während der „Reichspogromnacht“. Teilweise dauerten die Krawalle noch bis zum 13. November an, weil die Akteure augenscheinlich keine ferngesteuerten Handlanger des Systems waren, wie oft behauptet wird.

Die Zahl der unmittelbar Beteiligten war sehr gering, und es hagelte Kritik vonseiten der Bevölkerung, was beweist, dass diese eben nicht – wie es beispielsweise der Historiker Daniel Goldhagen behauptete – fast durchweg aus Judenhassern bestand. Innerparteilich wurde daher ganz offen von einem „Fehlschlag“ gesprochen, was die Mobilisierung der Bürger in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 betraf. Ja, es gab sogar Akte von Widerstand: So sorgte der preußische Polizeibeamte Wilhelm Krützfeld dafür, dass die Feuerwehr die brennende Neue Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße löschte, obwohl das eigentlich untersagt war. Dahingegen wagten die meisten hochrangigen Kirchenvertreter keine Proteste oder hießen das Ganze explizit gut, wie der evangelische Landesbischof von Thüringen, Martin Sasse.

Nach Ansicht mancher Antisemitismusexperten wurden in der Zeit vom 7. bis 13. November 1938 fast alle 1406 Synagogen im Deutschen Reich zerstört. Dazu komme die Ermordung von rund 400 Juden direkt während der „Reichspogromnacht“ sowie die Verhaftung von weiteren 30000 Juden und deren Einweisung in Konzentrationslager, in denen nochmals mehrere hundert getötet worden seien. Demgegenüber weisen andere Forscher darauf hin, dass die zuständigen Behörden seinerzeit „nur“ 191 in Brand gesteckte und 76 vollständig demolierte Synagogen registriert hätten. Viele beschädigte jüdische Gotteshäuser sanken nachweislich erst während der anglo-amerikanischen Terrorbombardements im Zweiten Weltkrieg endgültig in Schutt und Asche.

Den Zielen der NS-Führung hat die „Reichspogromnach“ insoweit genützt, als sie die Auswanderung der Juden sowie die sogenannte Arisierung jüdischen Eigentums beschleunigte. Dem standen höchst fatale außen- und wirtschaftspolitische Konsequenzen gegenüber. So wandten sich viele Sympathisanten der Nationalsozialisten in den USA nun von diesen ab. Des Weiteren kompromittierten die Ausschreitungen die Appeasement-Politik des britischen Premiers Neville Chamberlain, was letztlich zum Aufstieg von Winston Churchill führte. Außerdem wurde das Dritte Reich mit einer Welle von Boykotten konfrontiert. Nachdem ab 1933 zunächst nur jüdische Konsumenten im Ausland den Kauf deutscher Waren verweigert hatten, kündigten nun auch Unternehmen in den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien, Jugoslawien, Kanada und den USA ihre Handelsverträge mit dem Dritten Reich. Dadurch erlitten manche Firmen Umsatzeinbrüche von bis zu 25 Prozent. 

Allerdings sah sich das westliche Ausland nicht genötigt, künftig mehr verfolgte Juden aus Deutschland aufzunehmen. Beispielsweise genehmigten die US-Behörden weiterhin nur 27000 Einreiseanträge von Personen jüdischer Herkunft pro Jahr, obwohl 1938 schon 140000 Schutz­suchende in die Vereinigten Staaten wollten.