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25.10.19 / Volksbedarf statt Luxusbedarf / Prototypen des sozialen Wohnungsbaus – In den 1920er Jahren entstanden die Vorläufer heutiger Wohnghettos

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-19 vom 25. Oktober 2019

Volksbedarf statt Luxusbedarf
Prototypen des sozialen Wohnungsbaus – In den 1920er Jahren entstanden die Vorläufer heutiger Wohnghettos
Helga Schnehagen

Zum 100. Geburtstag des Bauhauses feiert Deutschland die Moderne. Dass die Wellen nicht zu hoch schlagen, mag daran liegen, dass, was ehemals Kunst, Architektur und Design revolutionierte, heute zum Alltag gehört. 

„Aus jedem Auto, jeder Pferde-Droschke, die vorüberfährt oder zuckelt, stecken sie die Köpfe heraus und verrenken sich Hals und Augen nach uns“, schrieb Bauhaus-Meister Lyonel Feininger 1927 in einem Brief an seine Frau Julia über das Aufsehen, welches die Meisterhäuser in Dessau erregten. 

Lebend-PS neben Motor-PS: Die Zeitenwende könnte kaum treffender beschrieben sein. Bauunternehmer Walter Tutenberg setzte auf die Motorisierung und eröffnete 1929 an der Liebenauer Straße in Halle die Großgarage Süd. Dabei handelte es sich um ein hochmodernes, lichtdurchflutetes, vierstöckiges Gebäude aus Beton, Stahl und Glas mit 

150 Stellplätzen, das die Pkws per Autofahrstuhl und Schiebebühnen, sogenannte Laufkatzen, in die Parkboxen beförderte. 

Nach US-amerikanischem Vorbild lieferte der Parkhauspionier dazu einen 24-Stunden-Vollser­vice von der Wagenreinigung bis zur Werkstattreparatur, von Er­satzteilen bis zur Tankstelle, von Aufenthalts- und Schlafräumen, Bädern und Duschen bis zum Frisiersalon. Auch ein Lotsendienst gehörte dazu. 1992 wegen Baufälligkeit geschlossen, bis 2011 für vier Millionen Euro denkmalgerecht saniert und durch eine spiralförmige Auffahrt – als Ersatz für den unsanierbaren Lift – ergänzt, parken heute 88 Dauermieter hier ihr Auto. 

Demgegenüber fehlte dem Volk, das in Massen in die rasant wachsenden Industrieorte zog, menschenwürdiger Wohnraum. „Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt“, brachte der Berliner Milieu-Maler Heinrich Zille die Misere auf den Punkt: Lösungen waren dringend gefragt. 

Als Reformstadt erregte Magdeburg (damals rund 300000 Einwohner) reichsweite Aufmerksamkeit. Denkmalgeschützt und weitgehend saniert, wohnt man bis heute gut und günstig in der Hermann-Beims-Siedlung. Die ab 1926 nach Plänen von Bruno Traut errichteten 2000 Wohnungen stehen für Deutschlands erste nach einheitlichem Plan gebaute Großsiedlung der Moderne: ein Muster für gesundes Wohnen mit viel Licht, Luft und Sonne samt einem Pappel-Grünzug als Frischluftschneise. Zur Selbsterfahrung in diesem Vorzeigeprojekt des sozialen Wohnungsbaus lädt eine im Stil der 1920er Jahre eingerichtete Gästewohnung ein, die 

80 Euro pro Tag kostet. 

Unter dem Motto „Volksbedarf statt Luxusbedarf“ günstig zu kaufen oder zu mieten, entstand zur gleichen Zeit im Süden von Dessau (1925 zirka 75000 Einwohner) bis 1928 die Versuchssiedlung Törten. Architekt der 314 Eigenheime für Arbeiter mit geringem Einkommen war Walter Gropius. Durch Fertigbauweise, günstige Materialien und standardisierte Bauabläufe konnte die Parzelle mit Nutzgarten für

10000 Reichsmark (eine RM entsprach zirka zehn Euro) erworben werden. Trotz späterer Veränderungen – vor allem die zu hoch gelegenen Fensterbänder wurden durch Lochfenster ersetzt – haben die weißen, kubischen Flachdach-Reihenhäuser bis heute ihre schlichte Eleganz bewahrt.

Als wichtigen Beitrag zur Siedlung Törten entwickelte Hannes Meyer am Bauhaus in Dessau die heute weit verbreiteten Laubenganghäuser. Stolz kündet ein Transparent vom Welterbe. Die UNESCO hat die Prototypen im Jahr 2017 mit ins Welterbe Bauhaus aufgenommen. Die 48-Quadratmeter-Wohnungen wurden für 37,50 Reichsmark im Monat vermietet. Wegen ihres geschick­ten Grundrisses, der auf Zwi­schenräume verzichtet, sind sie noch immer beliebt.

Die Häuser gehören jetzt der Wohnungsgenossenschaft Dessau eG. Bei der Sanierung 1998 wurde eine Musterwohnung im Originalzustand wiederhergestellt, die im Rahmen von Führungen der Stiftung Bauhaus Dessau zu besichtigen ist. Alle Dessauer Bauhaus-Bauten verbindet die Buslinie 10. 

Die sogenannte Bauhauslinie hält auch an der Gaststätte Kornhaus. Das von Carl Fieger 1929/ 1930 direkt an der Elbe erbaute moderne Terrassen-Café besticht mehr noch als durch seine Architektur durch den traumhaften Ausblick. Hier kommt kein Radler auf dem Elberadweg ohne Einkehr vorbei. 

Die nach der Vereinigung sanierte Siedlung Zickzackhausen in Bernburg an der Saale ging bei der UNESCO-Nominierung indes leer aus. Sie ist ein Projekt des 1923 gegründeten Anhaltischen Siedlerverbandes, der bis 1930 für Geringverdiener baute. Unter gleicher Prämisse wie in Dessau ließ der Verband 1928/1929 von dem Wiener Architekten Leopold Fischer 90 Eigenheime mit großen Selbstversorgergärten errichten. Im Gegensatz zu Törten stehen die Baukörper um 90 Grad gedreht zur Straße – daher der Name. Gartenarchitekt Leberecht Migge machte daraus eine frühe Öko-Siedlung mit Trocken-Toilette für die Gartendüngung und einem Bewässerungssystem, das Regen und Abwasser aus Küche und Bad in den Garten leitete.

Anhänger der in England 1898 entwickelten Gartenstadt war auch bereits der Schweizer Architekt Otto Rudolf Salvisberg. Für die rund 2000 Beschäftigten des neu entstandenen Reichsstick­stoffwerkes, heute SKW Stick­stoffwerke Piesteritz, baute er 1916/1919 in Lutherstadt Wittenberg eine Idealstadt mit Kirche, Rathaus, heute Gymnasium, Kauf- und Vereinshaus, Schule und Frauenhaus für die unverheirateten Sekretärinnen, in der Arbeiter und Betriebsleiter gemischt ne­beneinander wohnten. Mit eigener Toilette, Waschküche und Badewanne waren die 363 Miet-Reihenhäuser damals auf dem höchsten Stand des Komforts. 

Schon zu DDR-Zeiten unter Denkmalschutz gestellt, wurde die Werkssiedlung zur Expo 2000 als Vorzeigestück in Ökologie und Ökonomie originalgetreu saniert und so zur ersten autofreien Siedlung in Deutschland. Mit Giebeln und Gauben, Sprossenfenstern, Holzläden und bunten Türen vereinen sich Tradition und Moderne hier noch zu einem harmonischen Mix – mit einem Hauch von Landhausstil.


Tourentipps zu den Bauten unter: www.grandtourdermoderne.de; zusätzliche Orte der Moderne in Sachsen-Anhalt unter: www.bauhaus-entdecken.de