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15.11.19 / Enttäuschte Hoffnungen in Chile / Was hinter der Fahrpreiserhöhung von umgerechnet rund vier Cent die tieferen Ursachen der Krawalle sind

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46-19 vom 15. November 2019

Enttäuschte Hoffnungen in Chile
Was hinter der Fahrpreiserhöhung von umgerechnet rund vier Cent die tieferen Ursachen der Krawalle sind
Markus Matthes

Chiles Präsident Sebastián Piñera wird in seiner vergangenes Jahr begonnenen zweiten Amtszeit alle Hände voll zu tun haben, dass falsche Hoffnungen nicht wieder in blinde Zerstörungswut ausarten.

Aus Protest gegen eine Anhebung der Fahrpreise um umgerechnet rund vier Cent für die U-Bahn in Santiago de Chile begannen am 7. Oktober Schüler und Studenten, in Bahnhöfen Drehkreuze zu überspringen. Am 15. Oktober kam es zu ersten Unterbrechungen des Fahrbetriebs und am 17. Oktober zu Beschädigungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Schließung der besten Metro Südamerikas für drei Tage ab 18. Oktober zog pro Tag über 2,5 Millionen Fahrgäste in Mitleidenschaft. Von den inzwischen 1,4 Milliarden US-Dollar Schaden der Randale entfallen allein über 300 Millionen auf 81 beschädigte und 17 niedergebrannte Stationen. 

Laut Präsident Piñera befand sich Chile im „Krieg gegen einen machtvollen und unerbittlichen Feind“, „der nichts und niemanden respektiert“. Er rief für den Zeitraum vom 19. bis zum 25. Oktober den Ausnahmezustand aus, zunächst für den Großraum Santiago, später dann auch für andere Landesteile. Das Militär kam zum Einsatz, und gegen die Randalierer wurde mithilfe eines speziellen Staatssicherheitsgesetzes vorgegangen. In der durch Straßensperren, Umleitungen und der Zerstörung von Ampeln fast kollabierten Hauptstadt galt eine zweinächtliche Ausgangssperre, wie zuletzt nach dem Erdbeben von  2010. Nach friedlichen Kundgebungen nahm Piñera am 19. die umstrittene Fahrpreiserhöhung zurück, welche die allgemeine Unzufriedenheit mit den Zuständen im Lande zutage gebracht hatte. 

Während seiner ersten Amtszeit von 2010 bis 2014 hatte Piñera mit seiner Wirtschaftspolitik beachtliche Erfolge erzielt. Die bis vor Kurzem durchweg positiven makroökonomischen Indikatoren hatten allerdings in Teilen der chilenischen Gesellschaft zum Teil unrealistische Erwartungen an sein zweites Mandat ab 2018 geweckt. Gleichzeitig bestehen durchaus strukturelle Mängel: Ein quasi privates Rentensystem, das von den Beiträgen der Arbeitnehmer lebt und eine höhere Lebenserwartung, stark gestiegene Realeinkommen und lange Ausfallzeiten nicht berücksichtigt; eine Krankenversicherung mit 20 Prozent privaten und 80 Prozent staatlichen Patienten, wobei diese mit langen Wartelisten, unzureichender Präventivmedizin, zu wenig Krankenhäusern und Fachärzten sowie hohen Medikamentenpreisen zu kämpfen hat; eine Steigerung der Stromkosten; anhaltend starke Umweltbelastungen in industriellen Problemzonen; eine schwere Dürre und entsprechende Wasserzuteilungen in den riesigen Obstanbaugebieten; Preisabsprachen zwischen Großhändlern bei einigen Waren des täglichen Gebrauchs; die Steuerflucht von Großunternehmen; die Korruption bei Polizei und Militär und das Verfahren gegen den Sohn der ehemaligen Präsidentin Michelle Bachelet wegen Betruges.

Am 25. Oktober demonstrierten 1,2 Millionen Menschen gegen die Regierung. Daraufhin verkündete Piñera am 30. Ok­tober sogar die Absage der vom 11. bis 17. November in Santiago geplanten Aktivitäten der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) sowie die der XXV. Klimakonferenz der UN (COP-25) vom 2. bis zum 13. Dezember. Gleichzeitig setzte er drei Prioritäten: die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, die Sicherheit der Bürger und des sozialen Friedens; die schnellstmögliche Ausarbeitung einer gesellschaftlichen Agenda, die den Hauptforderungen der Demonstranten entspricht, sowie ein breitgefächerter, tiefgreifender Dialog mit allen Chilenen. Er gab offen zu, dass sich gewisse Probleme jahrzehntelang angestaut hatten und er deren Ausmaß unterschätzt hatte. 

Dabei hat sich Chile seit 1973, als General Augusto Pinochet das sozialistische Experiment mit 500 Prozent Inflation des 1970 frei gewählten Präsidenten Salvador Allende abrupt been­de­te, glänzend entwickelt. Das Bruttoinlandsprodukt stieg von damals 1640 US-Dollar bis 2018 auf 15293. Während im Jahre 2000 noch 30 Prozent der Bevölkerung von 5,50 US-Dollar am Tag lebten, waren es 2017 nur 6,4 Prozent. 2019 soll die Wirtschaft um 2,5 Prozent wachsen. 

50 Prozent der Lohnempfänger müssen aber bei hohen Lebenshaltungskosten mit 550 US-Dollar im Monat auskommen. Es bestehen beträchtliche Einkommensunterschiede, die von der Opposition gerne genutzt werden, um das verhasste „neoliberale“ System als Ganzes in Frage zu stellen und jene Gewalt zu rechtfertigen, die nach Angaben der Staatsanwaltschaft bis zum 31. Oktober 23 Tote und 1305 registrierte Verletzte forderte. Es gab über 3000 Festnahmen. Insgesamt wurden landesweit 25000 Geschäfte geplündert sowie 330 Supermärkte, der Hauptsitz eines Energieunternehmens, ein Zeitungsgebäude, eine Bankfiliale und ein Einkaufszentrum angezündet.