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22.11.19 / Goldene Mitte / Autorin von »Middlemarch« – George Eliot zum 200. Geburtstag

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-19 vom 22. November 2019

Goldene Mitte
Autorin von »Middlemarch« – George Eliot zum 200. Geburtstag
Harald Tews

Die Entdeckung Shakes­peares in der Zeit der Aufklärung verhalf einst der deutschen Literatur auf die Sprünge. Im 19. Jahrhundert war es umgekehrt: Da schauten die Briten voller Bewunderung auf die Weimarer Klassiker und die deutsche Philosophie. Ohne diesen Einfluss vom Kontinent wäre wohl eines der bedeutendsten Werke des viktorianischen Realismus nicht entstanden.

1871/72 erschien George Eliots Roman „Middlemarch“, der mit seinen über 1000 Seiten das übrige Werk der Autorin in den Schatten stellt. Hinter dem männlichen Autorenpseudonym verbarg sich die vor 200 Jahren, am 22. No­vember 1819, geborene Mary Ann Evans, die, wie sie einer ihrer Lehrerinnen anvertraute, schon in jungen Jahren die deutsche Sprache „außerordentlich mochte“.

Nachdem sie in Coventry, wo­hin sie aus der mittelenglischen Grafschaft Warwickshire gezogen war, auf religionskritische Geister wie den Philosophen Herbert Spencer getroffen war, übersetzte sie das mehr als 1000-seitige Werk „Das Leben Jesu“ des schwäbischen Theologen David Friedrich Strauss sowie Ludwig Feuerbachs „Das Wesen des Christentums“ ins Englische.

Beide Werke setzen sich kritisch mit der lediglich auf biblischen Mythen beruhenden „Christentümelei“ auseinander und betonen die Willensfreiheit des gläubigen Menschen. 

Das stieß bei der in der pietistischen Enge des anglikanischen Glaubens erzogenen Eliot auf fruchtbaren Boden. Sie wurde nach und nach ein „Freigeist“, was sich auch in ihrer Beziehung zu  dem Goethe-Biografen George Henry Lewes niederschlug. Bis zu seinem Tod 1878 lebte sie mit ihm in einer wilden Ehe, da er sich aufgrund der Ehegesetze nicht von seiner Frau scheiden lassen konnte. Gemeinsam bereisten sie 1854 Deutschland und lernten in Weimar den Komponisten Liszt kennen. Zurück in London verkehrten sie mit Richard Wagner, Kronprinz Friedrich von Preußen und wohl auch Fontane.

Erst nach der Deutschlandreise wurde Eliot zur Romanautorin. Es entstanden „Adam Bede“, „Die Mühle am Floss“, „Silas Marner“ „Romola“, „Felix Holt“ und „Da­niel Deronda“. Doch keines war so erfolgreich wie ihr vorletztes Werk „Middlemarch“. Der Einfluss von Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ ist darin spürbar: der Drang nach Bildung, die Sehnsucht nach einer Flucht aus der Provinz und der Wunsch nach einem freizügigeren Leben.

Die Feministen wollten Eliot für sich beanspruchen. Doch starke Frauengestalten finden sich bei Eliot selten. Zwar steht in „Mid­dle­march“ mit Dorothea Brooke eine Frau im Mittelpunkt, die in unglücklicher Ehe mit dem kleingeistigen Kleriker Casaubon lebt. Doch diese Figur, ein alter ego der Autorin, ist eher blass im Vergleich zu dem farbig schillernden Netz einer Unzahl von Haupt- und Nebenfiguren dieser „Studien des Provinzlebens“.

Der Untertitel sagt es: Es sind keine Geschichten, kein Abenteuer, kein Drama, sondern „Studien“. Eliot neigt nicht zu Extremen, nicht zu Gut oder Böse. Sie ist um Ausgleich bemüht, alles hält sich in der Waage. So spielt „Middlemarch“ nicht umsonst in der Mitte Englands. Das Mittelmäßige hat Eliot, die 1880 in London starb, damit auf ein ehrenvolles Schild gehoben.


„Middlemarch“ ist bei Rowohlt in einer Neuübersetzung von Melanie Walz erschienen (1264 Seiten, 45 Euro) und bei dtv in der überarbeiteten Übersetzung von Rainer Zerbst (1150 Seiten, 28 Euro).