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22.11.19 / Königsberg – Ein neuer Morgen / Fünfter Teil eines individuellen Reise-Berichts aus der Feder von Jörn Pekrul

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-19 vom 22. November 2019

Königsberg – Ein neuer Morgen
Fünfter Teil eines individuellen Reise-Berichts aus der Feder von Jörn Pekrul

Weit hinten auf der Lomse war früher auch – was heute kaum einer weiß – das Entsorgungsgebiet von Königsberg. Die organischen Teile sind längst vergangen, doch ein anderes hat sich erhalten: Als man die Fundamente für das neue Stadion aushob, kamen kleine Schätze wieder ans Licht: Glasflaschen Königsberger Brauereien, die das Herz manches Königsbergers anrühren. Vor vielen Jahren hat man sie genutzt und dann vergessen. Nach all den Jahrzehnten kommen diese Alltagsgegenstände wieder zu einem zurück, und ihr Keramikverschluss erinnert an die Firmen „Brauerei Ostmark Qualitätsbier“ oder „Ernst Strupat Königsberg i.Pr.“ Übrigens ist das Ostmark-Bier, dessen Brauerei 1814 in Devau gegründet wurde, noch heute erhältlich. Und das nicht zu knapp: Im nahen Stadion treffen die ersten Fans von einer Veranstaltung ein. Sie haben auch dieses in Königsberg beliebte Bier in praktischen Dosenportionen dabei.

Auf dem Weg in die Innenstadt begegnen wir wieder den „Freunden Kants und Königsbergs“, die ihr Symposium in der Stadthalle abgeschlossen haben. Es ist Kants Geburtstag, und er wird im Dom begangen mit einer philosophischen Vorlesung. Deutsche und russische Geisteswissenschaftler sprechen über Immanuel Kant. Die Stimmung ist festlich und mündet in ein Orgelkonzert zum Abschluss der Vorträge. Danach begibt sich die Gesellschaft zur Stoa Kantiana an der Nordseite des Domes. Die gusseiserne Absperrung zu Kants Grab wird geöffnet. Der Vorsitzende der „Freunde Kants und Königsbergs e.V.“, Gerfried Horst, hält eine Rede in deutscher und russischer Sprache, die den Nutzen von Kants Lehre für das menschliche Geschick – unabhängig von ihrer Nationalität – beschreibt. Es ist ein Beitrag, der auch in den nächsten Tagen in der Königsberger Presse Erwähnung finden wird. 

Währenddessen wird in Amalienau fleißig gebaut. Die katholische St.-Adalbert-Kirche an der Lawsker Allee, die lange Jahre ein verschlossenes Dasein als „heidnisches“ Büroobjekt – auch ohne Kobold – fristete, verzeichnet eine ungewöhnliche Betriebsamkeit. Die Fenster sind herausgebrochen, die Zwischendecken entfernt, und zum Vorschein gekommen ist wieder das alte Kirchenschiff von 1903. Es ist kaum zu glauben: St. Adalbert soll wieder in eine Kirche zurückversetzt werden. Alte Fotos und Zeichnungen geben den Bauarbeitern Orientierung, und längst Verschollenes kommt wieder ans Tageslicht. Hier ist es eine Ornamentik aus Bodenfliesen, die sich unversehrt unter einem Kunststoffbelag anfand. Ein Kunstwerk aus einer längst vergangenen Epoche. 

Der Tag in Königsberg geht langsam zu Ende. Eine Königsberger Marjell, etwa 80 Jahre jung, spricht mich an: „Ich fahre nach Hause zum Kaffee. Möchten Sie mitkommen?“ Verwirrt ob dieser Ansprache, steige ich ins Auto und fahre mit ihr nach Rothenstein. Ein Siedlungshaus aus den 1930er Jahren, damals für junge Familien gebaut. Sie macht das Gartentürchen auf, und ein Hund kommt ihr freudig entgegengelaufen und begrüßt sie mit einem dicken Schmatz. Der Hintergrund ist schnell erzählt: 

Erster Besuch in den frühen 1990er Jahren, seitdem ist Freundschaft entstanden zu den heutigen Bewohnern. Der Abendbrottisch ist gedeckt – reichlich und fürsorglich, wie es in russischen und auch in ostpreußischen Familien üblich ist. Wir sitzen im Wohnzimmer. „Hier war früher das Schlafzimmer meiner Eltern. Da oben (die Marjell zeigt in Richtung des Obergeschosses) war mein Zimmer und daneben das meines Bruders.“ Ich frage die russische Frau, Anfang 60, nach ihrer Geschichte. Sie erzählt: „Ich bin bereits in Königsberg geboren. Meine Eltern kamen 1947 aus der Gegend um Moskau. Es ging damals ein Aufruf durch das Land, wonach ein neues Gebiet erobert worden sei und auf Siedler warte. Es gäbe dort schöne Häuser. Meine Eltern waren jung und in Aufbruchsstimmung, sie wollten den Krieg vergessen. Als sie ankamen, fanden sie dieses Haus als Ruine vor. Es war schon mehrmals geplündert worden, und durch das Küchenfenster war eine Granate hereingeflogen. Es hieß, wenn wir es wieder aufbauen würden, dürften wir hier wohnen bleiben. Der Aufbau war mühselig, weil es kaum etwas gab.“ 

Eine russische Überlebensgeschichte der „kleinen Menschen“, die im Grunde nie die Wahl hatten oder irgendeinen Einfluss. Sie dürfte vielen deutschen Biografien aus dieser Zeit ähneln. Was folgte, war das, was alle Menschen beschäftigt: die Sorge um die Kinder, das Bewältigen des Alltags im Wechsel von harter Arbeit und vorübergehenden Freuden, die Schläge von Krankheit und Leid und die Endlichkeit durch den Tod. Und den Wunsch und das Bemühen, in all den Verflechtungen eines Lebens zurechtzukommen. 

Zur gleichen Zeit, als ich Rothenstein verlasse, endet im neuen Fußballstadion auf der Lomse die Veranstaltung von heute Nachmittag. Unvergessen das russische Sommermärchen des Jahres 2018, als die Fußball-Weltmeisterschaft auch in Königsberg vier Spiele absolvierte. Die Stadt war in einen Rhythmus von Leichtigkeit und Energie geraten, wie sie ihn noch nicht erlebt hatte. Viele Königsberger sprechen heute noch davon, und man kann den jungen Menschen nur wünschen, dass sie sich diesen „Groove“, diese Leichtigkeit des Unkonventionellen, erhalten mögen.

Es ist Abend geworden. So vieles wurde heute gesehen und bemerkt, dass es kaum in einen einzigen Tag passen könnte. Es ist der Teppich eines Lebens, der aus vielen Fäden gewebt wird und an unterschiedlichen Orten viele kleine Ereignisse auslöst. Wir haben heute versucht, einen Eindruck von dem Leben im heutigen Königsberg zu bekommen. Und wir haben uns angestrengt, unser Königsberg zu finden. Unser Rückweg führt wieder zum Oberteich. Auch das Schwanenpaar der letzten Nacht hat seinen Tag hinter sich. Im Licht der untergehenden Sonne ziehen sie ruhig ihren Kreis auf dem Wasser.