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20.11.20 / Internationaler Militärgerichtshof / Churchill und Stalin wollten kurzen Prozess machen – ohne einen Prozess / Erst nach langer Diskussion kam die Führung der Nationalsozialisten vor 75 Jahren auf die Anklagebank

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47 vom 20. November 2020

Internationaler Militärgerichtshof
Churchill und Stalin wollten kurzen Prozess machen – ohne einen Prozess
Erst nach langer Diskussion kam die Führung der Nationalsozialisten vor 75 Jahren auf die Anklagebank
Klaus J. Groth

Vor 75 Jahren setzten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges die Hauptverantwortlichen des NS-Regimes, soweit sie derer habhaft werden konnten, auf die Anklagebank. Seither gehören die Nürnberger Prozesse, die am 20. November 1945 begannen, zu den festen Wegmarken deutscher Geschichte. „Nürnberg aber musste erst geschaffen werden“, schrieb der stellvertretende US-amerikanische Chefankläger Robert Kempner in seinen Lebenserinnerungen. Es war keineswegs selbstverständlich, dass der NS-Führung der Prozess gemacht werden würde. Es gab andere Vorschläge.

Mit zunehmenden Kriegserfolgen diskutierten die Alliierten Pläne, nach denen nicht nur die Führungsriege des Gegners zu bestrafen sei, sondern große Teile der Bevölkerung ebenfalls. Zehn Millionen Deutsche sollten zu Zwangsarbeit in die Sowjetunion und nach Frankreich deportiert werden. 

Zwangsarbeit für zehn Millionen

Der Morgenthau-Plan, der zum Ende des Krieges bereits wieder verworfen war, gehörte ebenfalls zu den Vorüberlegungen. Neben der Bestrafung von Kriegsverbrechen sah der radikalökologische Plan ein grünes Land ohne Autos und schädlichen Kunstdünger vor, eine Zukunftsperspektive, die gegenwärtig neue Freunde findet. Der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill, die dem Plan anfänglich zugestimmt hatten, distanzierten sich davon bereits vor dem Ende des Krieges.

Von der in dem Plan angedrohten Bestrafung der Träger des NS-Regimes distanzierten sie sich nicht. Noch im März 1945 vertrat Churchill den Standpunkt, es solle keine Prozesse geben. Stattdessen sollten die schlimmsten Nationalsozialisten durch Hinrichtungskommandos erschossen werden, das sei auch früher bei Kriegsverbrechern so üblich gewesen. Der Verbündete in Moskau, Josef Stalin, gab das Quantum vor: 50.000 Hauptkriegsverbrecher seien innerhalb weniger Wochen hinzurichten, ohne lange Debatte. Es genüge, wenn sie eine Funktion hatten und auf einer Liste der Kriegsverbrecher stünden. Churchill und Stalin wollten kurzen Prozess machen, indem sie einen Prozess verweigerten.

50.000 sofortige Hinrichtungen

In den Vereinigten Staaten beurteilte man die Lage anders. Der frühere Generalstaatsanwalt und damalige Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, Robert H. Jackson, wurde beauftragt, einen Gerichtshof der Alliierten vorzubereiten. Jackson schwebte ein New Deal für Deutschland vor, die Karten sollten neu gemischt werden, vor allem in der Volkserziehung und bei den Staatsbeamten. Als Verfechter dieser Linie argumentierte Kempner, es habe keinen Effekt, wenn nach einem Krieg mit 50 Millionen Toten noch einmal 50.000 Menschen verschwänden. Die von Churchill vorgeschlagenen Hinrichtungspelotons entsprächen den mörderischen Methoden der Gestapo. Es war reichlich Überzeugungsarbeit zu leisten, ehe sich Sowjets und Briten im August 1945 zur Einsetzung eines Militärgerichtshofes bereit erklärten. 

Das Londoner Viermächteabkommen vom 8. August 1945 bildete die Grundlage für die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher. Der Internationale Militärgerichtshof sollte Personen aburteilen, die einzeln oder als Mitglieder einer Organisation Verbrechen begangen hätten. Dazu zählten: Verbrechen gegen den Frieden (Planen, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge); Kriegsverbrechen (Verletzung der Kriegsgesetze oder -gebräuche, Mord, Misshandlungen, Deportation zur Sklavenarbeit, Misshandlungen von Kriegsgefangenen, Plünderung öffentlichen oder privaten Eigentums, mutwillige Zerstörung von Städten, Märkten oder Dörfern oder jede durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwüstung); Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Mord, Ausrottung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen). 

Das Material für die Anklagen hatte die War Crimes Commission (Kriegsverbrechenskommission) mit Sitz in London seit 1943 zusammengetragen. Daran beteiligt waren die Alliierten mit Ausnahme der Sowjetunion. Engländer, Polen, Tschechen und Ungarn hatten die Punkte zusammengestellt. Problematischer war es, die Taten Personen zuzuordnen. Adolf Hitler, Heinrich Himmler und Hermann Göring standen als erste auf der Liste. Tatsächlich angeklagt wurden in Nürnberg Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Robert Ley, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Wilhelm Frick, Julius Streicher, Walter Funk, Hjalmar Schacht, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach, Fritz Sauckel, Alfred Jodl, Franz von Papen, Arthur Seyß-Inquart, Albert Speer, Constantin von Neurath, Hans Fritzsche und in Abwesenheit Martin Bormann.

Unter den Anklägern in Nürnberg fand ein regelrechter Wettbewerb statt, wer gegen wen klagen durfte. Dass dem Chefankläger der USA, Jackson, Göring überlassen werden musste, galt als ausgemacht. Jacksons Stellvertreter Kemp­ner wählte den weniger bekannten Innenminister Frick, denn „der hat mich ausgebürgert … er hat die nutzlosen Esser getötet“.

Der Gerichtspsychologe Gustave M. Gilbert betreute während des Nürnberger Prozesses die Gefangenen. Er forderte sie auf, die persönliche Anklageschrift zu kommentieren. Eine Auswahl: Göring: „Der Sieger wird immer der Richter und der Besiegte stets der Angeklagte sein“; von Ribbentrop: „Die Anklage ist gegen die falschen Personen gerichtet“; Rosenberg: „Die antisemitische Bewegung war nur eine Schutzmaßnahme“; Frank: „Ich betrachte diesen Prozess als ein gottgewolltes Weltgericht, das bestimmt ist, die schreckliche Leidenszeit unter Adolf Hitler zu untersuchen und zu beenden“; Keitel: „Für einen Soldaten sind Befehle Befehle!“; Streicher: „Dieser Prozess ist ein Triumph des Weltjudentums“; von Schirach: „Das ganze Unglück kam von der Rassenpolitik“; Speer: „Eine Mitverantwortlichkeit für solch grauenvolle Verbrechen gibt es sogar in einem autoritären Staat.“

Der Prozess wurde bis zum 1. Oktober 1946 geführt. Zwölf der 24 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, sieben erhielten Freiheitsstrafen, drei wurden freigesprochen, und zwei Verfahren wurden eingestellt.