18.05.2024

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Folge 52-21 vom 31. Dezember 2021 / Buchbesprechung / „Ein Zusammenbruch unserer ganzen Welt“ / Individuelle Erfahrungen aus dem Sommer 1945 stehen im Mittelpunkt dieser Sammlung von Zeitzeugenberichten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 52-21 vom 31. Dezember 2021

Buchbesprechung
„Ein Zusammenbruch unserer ganzen Welt“
Individuelle Erfahrungen aus dem Sommer 1945 stehen im Mittelpunkt dieser Sammlung von Zeitzeugenberichten
Karlheinz Lau

Wie in Deutschland 1945 der Frieden begann – Zeitzeugen berichten“ – so lautet der Untertitel des Buches „Ein Sommer wie bisher kein anderer“. Die Herausgeber befragten im Jahr 2020 24 deutsche Bürger sowie einen Offizier der Roten Armee. Alle Gesprächspartner sind um die 80, 90 Jahre alt oder inzwischen bereits verstorben, so etwa Hans-Jochen Vogel. Sie lebten in allen Teilen des ehemaligen Deutschen Reiches, aber auch im Exil wie die Familie Ernst Reuter. 

Bekannte Namen sind unter ihnen: der Schauspieler Armin Müller-Stahl, der Autor Martin Walser, Marianne von Weizsäcker, Klaus von Dohnanyi, ehemaliger Bundesminister und Bürgermeister von Hamburg, oder Hans Modrow, letzter Ministerpräsident der DDR. Den Interviews wurden kurze Lebensläufe der Befragten vorangestellt. Eindrucksvolle Farbfotos zeigen das hohe Alter der Gesprächspartner, die natürlich vor 75 Jahren, bei Kriegsende, allesamt unbekannte junge Leute ohne eine konkrete Zukunftsperspektive waren. 

Die Herausgeber haben sich entschieden, aus dem Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen Aufzeichnungen aus jenen Monaten zu bringen, die den Zeitraum der Interviews erfassen (9. Mai bis 6. August 1945), um das Bild der Erinnerungen zu ergänzen und in den politischen Zusammenhang zu stellen. Eine Zeittafel des Sommers 1945 unterstützt das. Ein Additum mit genauer Datumsangabe erscheint durchgehend auf jeder Seite der geführten Gespräche.

Es geht nicht darum, die Inhalte der Aussagen zu kommentieren oder gar zu kritisieren, es sind die individuellen Erinnerungen und Empfindungen der betreffenden Personen. Diese Erfahrungen der 24 Zeitzeugen sind keine anderen als die, die Hunderttausende gleichaltriger Jungen und Mädchen bei Kriegsende gemacht hatten. In zahlreichen Berichten und Erinnerungsbüchern wird das beschrieben. 

Das unvorstellbare Chaos im Lande, die zum Teil flächendeckenden Zerstörungen der Wohnhäuser und der Infrastruktur, ein Gewimmel an Menschen: Soldaten der Sieger, deutsche Kriegsgefangene und befreite französische oder russische Gefangene, ehemalige KZ-Insassen, ausgebombte Familien – das alles und vieles mehr zeigt die totale Hoffnungslosigkeit der deutschen Bevölkerung, die zunächst in völliger Unkenntnis der alliierten Vereinbarungen über Deutschland gelassen wurde. 

Aus den Protokollen der Gesprächspartner sollen folgende Punkte herausgegriffen werden, die durchaus verallgemeinert werden müssen: keine Gefühle der deutschen Schuld und Verantwortung, im Gegenteil, alles war feindliche Propaganda; keine Kenntnisse von den Verbrechen der Nationalsozialisten, Holocaust und Ausschwitz waren offenbar unbekannt, fester Glaube an Hitler und den Endsieg. Alle diese Defizite wurden erst allmählich bekannt; sie lösten nicht unbedingt Schuldgefühle aus, wie überhaupt die NS-Ideologie zäh in den Köpfen festsaß. 

Die von den Herausgebern befragte Ostpreußin Annemarie Günther, nach der Flucht war sie in Hamburg gelandet, äußerte sich wie folgt: „Dann erreichten uns Nachrichten über das, was Hitler, was Deutschland getan hatte. Wir erfuhren von Auschwitz, von der Judenvernichtung, von all den Gräueltaten. Das war entsetzlich. Es war ein Zusammenbruch unserer ganzen Welt, in der wir bisher gelebt hatten … Wie das so lange geheim gehalten werden konnte! Das erscheint den Menschen heute natürlich unglaubwürdig, mir selber auch“. 

Oder Friedrich Nowottny, ehemaliger Intendant des WDR. Er hielt sich nach der Kapitulation in der unzerstörten österreichischen Stadt Braunau, der Geburtsstadt Hitlers, auf: „Aber die Menschen, die Hitler 1938 noch mit Jubel empfangen hatten, waren über Nacht wieder Österreicher geworden. Hitler hatten sie nie gekannt, so ungefähr taten sie nun. Die Österreicher waren ja ein befreites Volk – sie deklarierten sich als die ersten Opfer der Nazidiktatur.“ 

Diese Beispiele vermitteln einen Eindruck von der allgemeinen Bewusstseinslage der Menschen, die nicht zu den Siegern gehörten. Es muss Martin Walser, einem der Interviewten, zugestimmt werden, dass dieser Sommer wie kein anderer gewesen ist. Alle Berichte der 24 Gesprächspartner spiegeln die Zeitumstände des Jahres 1945 wider und werden nicht durch veränderte Sichtweisen der folgenden Jahrzehnte bis 2020 beeinflusst. 

Die Frage muss gestellt werden, warum das Thema dieses Buches 75 Jahre nach Ende des Krieges in Deutschland behandelt wird. Schließlich ist das Angebot persönlicher Erinnerungen auch von Zeitzeugen sehr breit, allerdings bereits in den ersten Jahrzehnten nach 1945 erschienen. Heute wird die Zahl der noch Lebenden immer geringer, die diese Zeit bewusst erlebt haben. Dieses Buch bietet eine der letzten Gelegenheiten, mit Zeugen über die Nachkriegswochen zu sprechen. Hier wird authentisch über den absoluten Tiefpunkt der deutschen Geschichte berichtet, gleichzeitig aber aufgezeigt, wie sich aus Hoffnungslosigkeit Aufbaustimmung entwickelt. Das kann zum Beispiel durch die Lebensdaten der Gesprächspartner vermittelt werden. Das Buch sollte einen breiten Leserkreis finden.

Hauke Goos/Alexander Smoltczyk (Hg.): „Ein Sommer wie seither kein anderer“, Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2021, gebunden, 233 Seiten, 24 Euro