29.03.2024

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1998 Vor 75 Jahren starb Georg Reicke in Berlin

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 1998


Bürgermeister und Poet dazu
Vor 75 Jahren starb Georg Reicke in Berlin

Der spätere Bürgermeister der Reichshauptstadt wurde am 26. November 1863 in Königsberg geboren; er war der zweite Sohn eines Memeler Ehepaares. Der Vater, Lotsensohn, hatte sich über Präparandie und Studium zum Bibliothekarsberuf und zum anerkannten, unermüdlichen Kant-Forscher emporgearbeitet. In dem bescheidenen Eigenhaus in der Kalthöfischen Straße mit Garten wuchsen vier glückliche Kinder auf. Das Leben von dreien gehörte später den Büchern: Johannes wirkte vier Jahrzehnte lang als Universitäts-Bibliothekar in Göttingen, Emil als Historiker und Archivar in Nürnberg; Anna wurde eine der ersten Volksbibliothekarinnen von Berlin. Der musisch veranlagte Georg studierte Jura in Königsberg und Leipzig. Er war unter Ellendt Schüler des berühmten Fridericianums gewesen.

Georg Reickes Referendarzeit in dem Haffstädtchen Heiligenbeil fand später ihren Niederschlag in seinem Roman "Im Spinnenwinkel" – zur Empörung der Heiligenbeiler und zum Entzücken der Heiligenstädter im Eichsfeld – dank des abgeänderten Namens. Als Konsistorial-Assessor an den Oberkirchenrat in Danzig berufen, heiratete Reicke eine junge Malerin, Tochter eines früh verstorbenen Berliner Architekten. Nach drei Jahren als Konsistorialrat wurde er nach Berlin versetzt. Eines Tages war im "Reichsboten" zu lesen: "Ein Mitglied der hohen Behörde kämpft Schulter an Schulter mit Ibsen und Nietzsche." Und als dieses Mitglied gar mit Hermann Sudermann zusammen den "Goethebund" zur Bekämpfung des drohenden Paragraphen 184 a im Strafgesetzbuch gründete, war Strafversetzung vorgesehen. Der Mann ohne Vermögen, mit vier kleinen Kindern, nahm seinen Abschied. Ein Roman "Das grüne Huhn", ebenso sein Drama "Freilicht" machten den Freisinnigen rasch bekannt. Der damalige Reichskanzler v. Bülow holte ihn zunächst ins Reichsversicherungsamt; aber noch vor späterer Verwendung wählten die Stadtväter von Berlin ihn zum Bürgermeister. Er bezog danach 18 000 Mark Jahresgehalt, hatte weder Dienstwohnung noch "Repräsentationsgelder". Wes Geistes Kind er war, erwiesen Reickes Reden zur Schillerfeier auf dem Gendarmenmarkt (9. Mai 1905) und zur Hundertjahrfeier der Stein’schen Städteordnung im November 1908. Beides waren Bekenntnisse eines idealistischen Freiheitssinnes. Vier weitere Wesenszüge des Menschen haben sich in den Tätigkeitsgebieten des Bürgermeisters, oft einander durchdringend, ausgewirkt: Mitmenschensinn, Geschichtsbewußtsein, Naturliebe, Kunstfreude. Ferner: Eröffnung des Rudolf-Virchow-Krankenhauses, der Anstalten von Buch, Schaffung des "Schiller-Parks", des "Märchenbrunnens" im Friedrichshain, Freigabe der Liegewiese im Treptower Park, Bau des neuen "Stadthauses" mit der Bärenbekrönung von Wrba, des "Märkischen Museums", Rettung des Nicolai-Körner-Hauses in der Brüderstraße als "Lessing-Museum".

Abschluß und Krönung der Dienstjahre bildet 1920 die Verwirklichung der oft von ihm erhobenen Forderung nach einem "Groß-Berlin". Damit nimmt er seinen Abschied.

Nur zwei Jahre der ersehnten Freiheit und dichterischen Arbeit sind ihm vergönnt. Georg Reicke erlebt mit seiner Frau einen Münchener Winter als "Studenten-Ehepaar" im Literatur-Kolleg von Arthur Kutscher oder beim Salvator-Anstich mit Max Halbe. Berlin feiert die Uraufführung seiner Charakter-Komödie "Sie". Dem Roman aus dem Leben des Vaters, "Der eigene Ton", folgt nun, nach anderthalb Jahrzehnten, "Der eiserne Engel" – eigentlich ein Schlüsselroman der Beamten-Erlebnisse. Als das "Berliner-Tageblatt" ihn vor der Buchausgabe abdruckt, schließen sich die hellblickenden Augen von Berlins "Bürgermeister und Poet dazu" für immer. Er stirbt an einer Nachwirkung der Kriegsjahre in seiner Wahlheimat am 7. April 1923. Ilse Reicke