25.04.2024

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1999 Präventivschlag: Was Stalin vor 60 Jahren wirklich im Schilde führte

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 1999


Ende eines historischen Mythos: "Ich habe Hitler überlistet"
Präventivschlag: Was Stalin vor 60 Jahren wirklich im Schilde führte
von KLAUS HORNUNG

Am 23. August 1999 jährt sich zum sechzigsten Mal der Abschluß des Pakts der beiden Diktatoren in Berlin und Moskau im Jahr 1939, der das Tor öffnete für die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und des deutsch-sowjetischen Krieges ab 1941.

Die Motive beider Seiten zu diesem Pakt sind heute deutlich: Hitler suchte die sowjetische Rückendeckung für seinen Angriff auf Polen und zugleich dessen Begrenzung ohne ein Eingreifen Englands und Frankreichs. Stalin wollte zunächst einmal Zeitgewinn zur Aufrüstung der Roten Armee, deren Führung er zwei Jahre zuvor brutal dezimiert hatte. Das geheime Zusatzprotokoll des Paktes ermöglichte ihm auch beachtlichen Raumgewinn nach Westen durch die Annexion Ostpolens und der baltischen Staaten.

Der Mann im Kreml kalkulierte jedoch überlegener als sein Gegenspieler in Berlin. Er war überzeugt, daß sich der Angriff Hitlers auf Polen nicht lokalisieren lassen werde, daß vielmehr durch den Kriegseintritt der beiden Westmächte jener "zweite imperialistische Krieg" entstehen würde, auf den er schon seit zwanzig Jahren gehofft hatte und der seine potentiellen Gegner dann derart schwächen sollte, daß die Partie schließlich durch das Eingreifen der Sowjetunion im Sinne eines neuen Schubs für die Weltrevolution entschieden werde.

Beide Diktatoren schlossen diesen Pakt aus der Perspektive ihrer jeweiligen weitgreifenden politisch-ideologischen Ziele: Hitler mit der Perspektive seines "eigentlichen Krieges" zur Gewinnung deutschen "Lebensraums im Osten" , wie er schon in "Mein Kampf" angekündigt hatte. Stalin verstand ihn als Vorbereitung des nächsten Stadiums des "revolutionären Weltprozesses", der 1923 zum vorläufigen Stillstand gekommen sei und dem ein zweiter Weltkrieg der "imperialistischen" Mächte den Weg bereiten sollte.

Mit Recht konnte Stalin am Abend des 23. August, wie Chruschtschow in seinen Memoiren berichtet, im engen Kreis sagen: "Ich habe Hitler überlistet." Seine Meisterleistung bestand darin, Hitler als "Eisbrecher" (Viktor Suworow) des Status quo von 1919 die Eröffnung des Krieges zuzuschieben und der Sowjetunion die schon von Lenin entworfene Rolle des "lachenden Dritten" zuzuweisen.

Die im Pakt des 23. August anvisierten Gewinne hat Stalin in der Folgezeit rasch eingeheimst. Schon am 17. September marschierte die Sowjetunion in Vollzug des Geheimprotokolls in Ostpolen ein. Am 30. November griff sie das alleinstehende Finnland an. Im Sommer 1940, als die Masse der deutschen Armeen in Frankreich gebunden war, annektierte die Sowjetunion die drei baltischen Staaten, und, vom Abkommen nicht gedeckt, auch Bessarabien und die nördliche Bukowina von Rumänien. Das brachte sie näher an die rumänischen Ölfelder heran.

Zwischen September 1939 und August 1940 hatte die Sowjetunion also alle ihre sechs westlichen Nachbarstaaten, mit denen durchweg Nichtangriffsverträge bestanden hatten, angegriffen. Wenn auch ohne formelle Kriegserklärungen war sie damit faktisch bereits in den Zweiten Weltkrieg eingetreten.

Wenn die sowjetamtliche Geschichtsschreibung von dieser Zeit als der "Vorkriegsperiode" (vor dem 22. Juni 1941) sprach, diente dies der propagandistischen Verhüllung der tatsächlich aggressiven Politik Moskaus und ihrem Bild vom deutschen "Überfall" auf die friedliebende und nichtsahnende Sowjetunion. Bis heute wird dieses Bild nicht zuletzt von deutschen Historikern kolportiert.

Dieser Mythos bröckelt freilich seit einiger Zeit. Deutsche Autoren wie Ernst Topitsch, Ernst Nolte, Joachim Hoffmann, Walter Post und der in den siebziger Jahren in den Westen gegangene sowjetische Militärhistoriker Wladimir Resun, der unter dem Pseudonym Viktor Suworow schrieb, haben jene Sicht während des vergangenen Jahrzehnts erschüttert.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben dann auch russische Historiker an der Demontage der stalinistischen Legende von der friedliebenden Sowjetunion gearbeitet. Der deutsche Rußlandexperte Wolfgang Strauß dokumentierte dies jüngst in seinem Buch "Unternehmen Barbarossa und der russische Historikerstreit". Wichtig war dabei die Rede Stalins im Politbüro am 19. August 1939, wo der rote Diktator den bevorstehenden Paktabschluß mit Hitler begründete. Diese Rede war lange auch von deutschen Historikern als "antikommunistische Fälschung" abqualifiziert worden. Nachdem sie bereits im November 1939 von der amtlichen französischen Nachrichtenagentur "Havas" veröffentlicht worden war, beteuerte kein Geringerer als Stalin selbst in einem Schreiben an "Havas" ihre Unechtheit. Nun haben Historiker der Universität Nowosibirsk den Redetext im Geheimfundus des Sonderarchivs der Sowjetunion gefunden, und die Historikerin T. S. Buschujewa hat ihn in der Moskauer Literaturzeitung "Nowy Mir" veröffentlicht.

Kurz darauf erschienen "Materialien des Geschichtswisenschaftlichen Seminars" der Universität Nowosibirsk mit dem Titel "1. September 1939 – 9. Mai 1945. Aus Anlaß des 50. Jahrestages der Vernichtung des faschistischen Deutschland im Kontext des Beginns des Zweiten Weltkrieges".

In einem der Beiträge befaßte sich der Historiker W. L. Doroschenko mit der Stalinrede vom 19. August. Er nennt den Redetext "eines der grundlegenden Dokumente zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges", das beweise, daß Stalin den Pakt mit Hitler in der Absicht geschlossen habe, "den Krieg zu entfachen, einmal mit dem allgemeinen Ziel der Machteroberung in Europa, zum anderen mit einem unmittelbaren Gewinn, der sich aus der Vernichtung Polens und der Eroberung Galiziens ergab ... Der Nichtangriffspakt machte die Hände Hitlers frei, provozierte Deutschland zur Kriegsauslösung. Als Stalin den Pakt schloß, stand für ihn fest, das Abkommen zu brechen, beabsichtigte er doch von Anfang an, zu einem für ihn vorteilhaften Zeitpunkt in den Krieg direkt einzugreifen!"

Hitler hatte sich mit dem Pakt des 23. Augusts 1939 und durch den nur für ihn unerwarteten englisch-französischen Kriegseintritt am 3. September bereits in die Rolle des von Moskau jederzeit Erpreßbaren begeben. Das wurde besonders deutlich in den Gesprächen mit dem sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw Molotow im November 1940 in Berlin. Es ging hier nicht nur um die Frage der weiteren für den Krieg Hitlers wichtigen sowjetischen Rohstofflieferungen, besonders Öl und Getreide.

Da England noch immer militärisch aufrecht stand, enthüllte sich nun das Damoklesschwert des Zweifrontenkrieges für Deutschland. Unter dem Eindruck der Gespräche mit Molotow und in der hochmütigen Hoffnung, auch die Sowjetunion in wenigen Monaten mit den Methoden des Blitzkrieges niederwerfen zu können, traten nun die Angriffsvorbereitungen Hitlers gegen die Sowjetunion in ihr konkretes Stadium.

Aber auch die sowjetischen Kriegsvorbereitungen hatten bereits am 1. September 1939 mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht begonnen. Am 26. Juni 1940 erließ das Präsidium des Obersten Sowjets die Verordnung "Über den Übergang zum achtstündigen Arbeitstag und zur siebentätigen Arbeitswoche" sowie das Verbot des eigenmächtigen Verlassens der Betriebe und Büros. 1941 erreichte der Anteil der Militärausgaben am sowjetischen Staatsbudget dreiundvierzig Prozent. Am 7. Mai übernahm Stalin selbst den Vorsitz im Rat der Volkskommissare, also das Amt des Regierungschefs. Die auf den Krieg vorbereitende sowjetische Propaganda gegen Deutschland hatte schon 1940 begonnen und wurde im Frühjahr 1941 erheblich gesteigert, unter anderem auch mit deutschlandkritischen Filmen wie "Professor Mamlock" (nach Friedrich Wolf, dem Vater von Markus Wolf) oder "Familie Oppenheim" (nach Lion Feuchtwanger).

Im Zusammenhang mit diesen Kriegsvorbereitungen ist auch die Rede Stalins vor den Absolventen der sowjetischen Militärakademie am 5. Mai 1941 zu sehen, in der der Diktator offen die deutsche Wehrmacht als potentiellen Feind nannte. Als 1989 das Buch Viktor Suworos, "Der Eisbrecher. Hitler in Stalins Kalkül", erschien, waren Historiker und veröffentlichte Meinung besonders in Deutschland vielfach bemüht, die Darlegungen des Autors über den offensiven Aufmarsch der Sowjetarmee gegen Deutschland im Frühjahr 1941 unter Verschluß zu halten.

Obwohl Suworow sich fast ausschließlich auf die sowjetischen militärischen Dokumente und die Memoiren der sowjetischen Spitzenmilitärs im Zweiten Weltkrieg stützte, wurden die Schlußfolgerungen des Autors angezweifelt, daß nämlich der Angriff Hitlers in ein bereits weit fortgeschrittenes Stadium des sowjetischen Offensivaufmarsches – und nicht etwa sowjetischer Defensivmaßnahmen – hineinstieß, woraus sich nicht zuletzt die deutschen Erfolge des Sommers 1941 erklärten. Noch immer herrsche die eigentümliche Palmströmlogik vor, "daß nicht sein kann, was nicht sein darf".

Da nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch die russischen Militärarchive zunehmend offener werden, haben russische Militärhistoriker die sowjetischen Pläne des Frühjahrs 1941 ausgewertet und teilweise veröffentlicht, welche die früheren Ergebnisse Suworows und anderer westlicher Autoren voll bestätigen. Der Historiker und Oberst a. D. Valij Danilow hat die Pläne des sowjetischen Generalstabs aufgefunden und publiziert, die seit dem März 1941 entwickelt und am 15. Mai von Stalin gebilligt wurden. Nachdem noch die Moskauer "Militärhistorische Zeitschrift" 1996 versucht hatte, die sowjetischen Angriffsvorbereitungen gegen Deutschland 1941 zu leugnen, kam die "Unabhängige Militärrundschau" in ihrem Februarheft 1998 zu entgegengesetzten Ergebnissen.

Danilow zitiert auch aus den Notizen, die der Teilnehmer an einer Absolventenfeier über die Stalinrede am 5. Mai angefertigt hatte mit der "Prognose Stalins, daß wir den Kampf mit Deutschland beginnen ... einen gewaltigen Krieg mit dem Faschismus, gegen den gefährlichsten militärischen Nachbarn, im Namen der Revolutionierung Europas und natürlich auch Asiens".

Danilow ordnete sodann die militärstrategischen Pläne, die in den Generalstabsplänen mehrfach als "Überraschungsschlag" und "Präventivschlag" bezeichnet wurden, in die politisch-ideologischen Rahmenbedingungen der sowjetischen Führung ein: "Es ging also nicht nur um die Abwehr einer ausländischen Aggression, sondern um die Verwirklichung weitgesteckter kommunistischer Ziele einschließlich der Weltrevolution."

Deshalb habe man sich für einen "Krieg mit dem Faschismus" entschieden und dabei die Verteidigung völlig vernachlässigt. Stalin "wollte einfach nicht glauben, daß Hitler die Initiative ergreifen und ihm zuvorkommen könnte. Dabei hatte Stalin in der Tat die Ratio für sich, nicht zu erwarten, daß Hitler selbst sich in den für ihn tödlichen Zweifrontenkrieg stürzen könne". Danilows Fazit lautet: "Die Außenpolitik der Sowjetunion der Vorkriegszeit (also vor dem 22. Juni 1941) bestand nicht darin, den Frieden mit allen nur denkbaren Mitteln zu bewahren. Im Gegenteil. Dokumente und praktische Maßnahmen der Sowjetregierung wie auch des Verteidigungsministeriums sprachen davon, daß die sowjetische Außenpolitik auf Angriff ausgerichtet war."

Ein weiterer Autor des Sammelbandes der Universität Nowosibirsk, der Historiker Michail Nikitin, kommt zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Danilow mit den Hinweisen auf die gigantischen Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion in der ersten Hälfte des Jahres 1941, als Panzer und Flugzeuge des modernsten Typs produziert wurden. Im Zeitraum zwischen 1939 und Juni 1941 seien der Roten Armee weiter zweiundneunzigtausend Geschütze und Granatwerfer, siebentausendvierhundert Panzer und siebzehntausendsiebenhundert Kampfflugzeuge zugeführt worden.

"Aus den Dokumenten geht eindeutig hervor, daß die sowjetische Führung im Frühjahr 1941 Deutschland als den Hauptfeind betrachtete. (...) Ein Kompromiß kam nicht mehr in Betracht, beide Seiten bereiteten sich darauf vor, ihre Ziele mit militärischen Mitteln zu erreichen. (...) Das Hauptziel bestand in der territorialen Ausdehnung der ,sozialistischen Welt‘ Richtung Westen, im Idealfall die Eroberung ganz Europas (...) Die Zersplitterung der Wehrmacht an vielen Fronten im Westen erschien Moskau als einmalige Chance, ,in einem Überraschungsschlag Deutschland zu vernichten‘."