29.04.2024

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1999 Eine Geschichte des Scheiterns:Die Bürgerrechtler: Vorkämpfer der deutschen Einheit oder letztes Aufgebot der DDR?

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 1999


1989: Eine Geschichte des Scheiterns
Die Bürgerrechtler: Vorkämpfer der deutschen Einheit oder letztes Aufgebot der DDR?
von PETER D. KRAUSE

Staatliche Gemeinwesen bedürfen der Gründungsmythen. Mangelt es an "positiven" Traditionen, müssen Legenden aushelfen. Gerade die allzu vernünftig und pragmatisch konstruierte Bundesrepublik Deutschland kann, geht es um emotionsträchtige demokratische Traditionselemente, nicht wählerisch sein.

Der Wende-Herbst 1989 war in diesem Sinn ein Glücksfall, denn er bedient mit dem "aufrechten Bürgerrechtler" das Bedürfnis nach dem Helden der Massendemokratie, er nährt zudem den Mythos vom Primat des Politischen. Doch die Bedeutung der Bürgerrechtler für den Untergang der DDR wird weit überschätzt. Weder waren sie Auslöser der politischen Krise noch Schrittmacher während der Umwälzung. Ihre Geschichte ist eine Geschichte des Scheiterns.

Was heißt politische Opposition? Auf die alltägliche Art des Widerstandes in Form des Verzögerns, des Hinhaltens und der ironischen Kommentierung, auf die "Trägheit der Hirne, Herzen und Hände" gegenüber den Wünschen der Weltrevolution sei hier wenigstens hingewiesen. Herauszustellen ist, daß die SED nie die Verweigerung der Jugend in den Griff bekommen hat. Auf alles, was sich den pädagogischen Gängelungen der Partei entzog, reagierte diese neurotisch, witterte politischen Widerstand. Nicht unbegründet, denn schnell konnten sich "negative Kräfte zusammenrotten": Nach einem Rock-Konzert in Ostberlin 1977 gab es bei Schlägereien mit der Polizei mehrere Tote. Als zu Pfingsten 1987 David Bowie am Brandenburger Tor vom Westen herübergrüßte, tobten nächtelang Straßenschlachten. Der Organisationsgrad der FDJ unter jungen Arbeitern tendierte gegen Null. Staatliche (geheimgehaltene) Umfragen unter Lehrlingen im Mai 1989 ergaben, daß sich nur neun Prozent mit dem Marxismus-Leninismus identifizierten (bei Studenten war der Anteil viel höher). Hätten sich mithin westliche Journalisten häufiger bei Fußballspielen von Chemie Leipzig oder Union Berlin umgesehen und seltener bei Christa Wolf und Stefan Heym nachgefragt, wäre ihre Verwunderung über Phänomene im Herbst 1989 weniger groß ausgefallen.

Kam der Zusammenbruch der DDR aus heiterem Himmel? Überrascht hat sicher, wie schnell die Sowjets bereit waren, den Satelliten preiszugeben. Der wirtschaftliche Niedergang aber war – gerade in der Provinz – unübersehbar gewesen. Inflationäre Tendenzen, ungünstiger werdende Austauschrelationen mit westlichen Staaten, hohe Betriebs- und Staatsverschuldung, Devisenknappheit waren Indikatoren des Niedergangs, die Überdimensionierung bestimmter Industrien zeigte desaströse Wirkungen, die Altstädte zerfielen. Die Unzufriedenheit wuchs.

Die wirtschaftliche und politische Perspektivlosigkeit äußert sich in der schnell steigenden Zahl der Anträge auf "ständige Ausreise". 30 000 DDR-Bürger dürfen 1988 übersiedeln. Als das Reisen erleichtert wird – 1,2 Millionen Menschen unterhalb des Rentenalters können 1988 zu Besuch in den Westen –, verschärft sich die Lage: 10 000 kehren nicht zurück. Im ersten Halbjahr 1989 muß das MfS beim "ungesetzlichen Verlassen" der DDR eine Planerfüllung von 160 Prozent melden. Und die Verweigerungshaltung im Land nimmt demonstrative Formen an, auch in Gestalt aller möglichen Subkulturen. Im November 1987 geht die Stasi gegen Mitarbeiter der Umweltbibliothek der Zionskirchengemeinde in Berlin vor. Zwei Monate später kommt es während der hochoffiziellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration in Ost-Berlin zur bekannten Transparent-Enthüllung: "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden"; es folgen Zuführungen (vorläufige Festnahmen), Verurteilungen, Ausbürgerungen. Die glasnosthaltige Zeitschrift "Sputnik" verschwindet 1988 aus dem Postvertrieb; dieses Verbot einer sowjetischen Auslandszeitschrift führt zur Verunsicherung vieler Genossen.

Anfang Mai 1989: Ungarn beginnt den Stacheldraht von seiner Westgrenze zu entfernen. Ebenfalls wichtig: Ungarn tritt der Internationalen Flüchtlingskonvention bei. In der DDR beantragen ungewöhnlich viele Menschen ein Visum für "die lustigste Baracke des Ostblocks". Die Kommunalwahlen am 7. Mai bringen dann die Ernüchterung auch bei denen, die an legal zu erreichende Veränderun-gen geglaubt haben. Die Fälschungen können durch Teilnahme an der Auszählung aufgedeckt werden; zahlreiche Klagen aber werden abgelehnt. Und dann folgt jener heiße politische Sommer, der im Juni eingeleitet wird von Lobeshymnen der DDR-Presse auf die chinesischen Genossen und deren Art, "Konterrevolutionen" niederzuwalzen.

Aber am 28. Juni deutet sich das Ende der DDR an. Der ungarische Außenminister Horn und sein österreichischer Kollege Mock zerschneiden den Eisernen Vorhang. Die Lagebilder aus Budapest dominieren fortan die Nachrichtensendungen. Der Druck auf die DDR-Regierung steigt, doch äußerlich reagiert sie mit morbider Stille auf ihren sich vollziehenden Untergang: Hinter den Kulissen allerdings herrscht Hektik, und am 19. August geht eine Bruder-Freundschaft zu Ende. Während eines Festes der Pan-Europa-Union flüchten 600 DDR-Bürger unter den Augen ungarischer Grenzer nach Österreich. Es lohnt, einige weitere Ereignisse des Herbstes in Erinnerung zu rufen.

4. September: "Ungarn" dominiert die Westnachrichten; in Leipzig findet die erste Montagsdemonstration nach einem Bittgottesdienst in der Nikolaikirche statt: Von den etwa 1400 Teilnehmern wird gefordert: "Wir wollen raus!" Der Zug wird von der Polizei abgedrängt.

10. September: Die ungarische Regierung kündigt an, sie wolle DDR-Bürgern die Ausreise nach Westen gestatten. Der Gründungsappell eines "Neuen Forums" wird über die Westmedien bekannt; die Bürgerinitiative fordert den "gesellschaftlichen Dialog".

11. September, ein Montag: 7000 Flüchtlinge verlassen kurz vor Mitternacht jubelnd Ungarn. Pro Tag werden mehrere tausend folgen. Bei einer Demonstration in Leipzig werden elf Teilnehmer wegen "Zusammenrottung" in Haft genommen, mehr als hundert Menschen "zugeführt" und mit hohen Ordnungsstrafen belegt. Ein "Weimarer Brief" von vier CDU-Mitgliedern an ihren Hauptvorstand zeigt sich beunruhigt durch das Problem der illegalen und legalen Ausreise, die den Kern der Gesellschaft betreffe, und fordert den innerparteilichen Dialog.

12. September: Eine weitere oppositionelle Gruppe meldet sich zu Wort: "Demokratie jetzt!" Ihr Aufruf spricht von Krisenzeiten des Sozialismus: "Was die sozialistische Arbeiterbewegung an sozialer Gerechtigkeit und solidarischer Gesellschaftlichkeit angestrebt hat, steht auf dem Spiel. Der Sozialismus muß nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verlorengehen will. Er darf nicht verlorengehen." Ebenfalls an diesem Tag erscheint der "Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR".

14. September: Bei einer Demonstration in Leipzig von mehr als tausend Menschen, vor allem Ausreisewilligen, werden Hunderte verhaftet. Eine Resolution Ostberliner Schriftsteller verlangt angesichts der Ausreisewelle und aus "Sorge um die weitere Entwicklung zum Sozialismus" eine Kurskorrektur.

18. September, wieder ein Montag: Die Ausreise über Ungarn ist in vollem Gange. Die DDR versucht, potentielle Flüchtlinge schon an ihrer Grenze abzufangen. In einer Resolution von Rockmusikern und Liedermachern ist die Rede von "Sorge um das Land", "dem massenhaften Exodus vieler Altersgenossen"; gefordert werden Reformen, die den Sozialismus erhalten.

19. September: In elf der fünfzehn DDR-Bezirke wird die Tätigkeit des Neuen Forums offiziell angemeldet. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mahnt Reformen an, um die Gründe für die Ausreise zu beseitigen. Die Bischöfliche Konferenz stimmt zu, erteilt aber jeder "Wiedervereinigungsdiskussion und jedem Antikommunismus" eine klare Absage.

22. September: Im "Neuen Deutsch-land" teilt das Innenministerium mit, der Antrag auf Bildung der Ver- einigung "Neues Forum" sei abgelehnt.

25. September: In der Bonner Botschaft in Prag halten sich fast tausend DDR-Bürger auf, die kein Visum nach Ungarn bekommen haben; in der Vertretung in Warschau sind es 400. Es ist Montag, in Leipzig demonstrieren etwa 8000 Menschen. Damit ist die Kontinuität der Proteste gewährleistet. Neben Rufen gegen frühere Festnahmen dominieren "Wir wollen raus!" und "Freiheit"; stärker ist nun das "Wir bleiben hier!" zu hören.

30. September: Bundesaußenminister Genscher teilt in Prag den mittlerweile 5500 Menschen die von der DDR geneh-migte Ausreise per Zug mit; 800 dürfen aus der Bonner Botschaft in Warschau ausreisen. Beide Botschaften füllen sich schnell wieder. 2. Oktober: Das "ND" macht drohend mit einem Foto von Deng Xiao-Ping und Egon Krenz, der in China weilt, auf. Wieder De-monstration in Leipzig: Nun nehmen schon 20 000 Menschen teil. Gefordert werden vor allem Verän-derungen im Land. Zu Schlagstockeinsätzen sieht sich die Polizei bei Kundgebungen in Dresden und Plauen, jeweils etwa 10 000 Teilnehmer, veranlaßt. Der Gründungsaufruf einer Vereinigung "Demokratischer Aufbruch" (DA) wird bekannt. Er beginnt: "Eine Unruhe geht durch unser Land. Immer mehr Menschen verlassen es, sie haben die Hoffnung auf ein sinnvolles Leben hier aufgegeben." Verlangt werden eine "Reform und Erneuerung des sozialistischen Systems in der DDR". Auf der Gründungsveranstaltung wehrt sich Friedrich Schorlemmer gegen die Forderung, die führende Rolle der SED in Frage zu stellen.

3. Oktober: Wieder sind 10 000 Menschen in der Botschaft in Prag, die ausreisen dürfen via DDR. Der paß- und visafreie Verkehr mit der CSSR wird aber ausgesetzt.

4. Oktober: Am Abend demonstrieren in Dresden 30 000 Menschen, vor allem Ausreisewillige, die am Hauptbahnhof auf die Züge aus Prag warten. In stundenlangen Straßenschlachten bleibt die Polizei nur aufgrund äußerster Mittel Herr der Lage. Achtzehn DDR-Bürger suchen in der US-Botschaft in Ost-Berlin Zuflucht. Ein Aufruf des Neuen Forums beteuert: "Wir haben nichts zu tun mit antikommunistischen Tendenzen."

5. Oktober: Wieder fahren Züge mit Tausenden von Prag nach Hof durch Dresden, wo 1100 Menschen nach Schlägereien verhaftet werden. Einen Tag später, am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR-Gründung, kommt es in zahlreichen Städten zu "Störungen von Volksfesten". Wieder machen Straßenschlachten in Dresden Schlagzeilen. Auch das Neue Forum nutzt den Jahrestag zu einer Erklärung: "Wir protestieren gegen die Versuche der Regierung, uns als Sozialismusfeinde darzustellen", nicht das Neue Forum, sondern die Untätigkeit der SED gefährde den Sozialismus. Es folgt der Appell an die SED-Mitglieder, ihre führende Rolle "endlich auszuüben".

7. Oktober: Ein Großaufgebot der Polizei sichert in Ost-Berlin die Staatsfeier, an der Gorbatschow teilnimmt. Nach 17 Uhr sammeln sich mehr als 3000 Menschen am Spreeufer und rufen: "Gorbi, hilf uns!"; sie werden zum Prenzlauer Berg abgedrängt. Dort verlieren die Genossen von der Volkspolizei die Beherrschung, die Situation eskaliert in eine reine Prügelorgie mit Hunderten von Verletzten. In Dresden wird ein Sitzstreik von 5000 Personen mit Schlagstöcken beendet, in Leipzig demonstrieren 7000 für "Freiheit". Die Sozialdemokratische Partei (SDP) gründet sich in Schwante in Brandenburg konspirativ.

8. Oktober: Nach einer Fürbitt-andacht in der Ostberliner Gethsemane-Kirche kommt es erneut zu schlimmen Übergriffen der Sicherheitskräfte. In Dresden demonstrieren 10 000 Menschen. Einen Tag später sind in der SED auf kommunaler Ebene Tendenzen der Aufweichung spürbar. Deutlich wird das in Dresden, auch in Leipzig. Und dort wird der Machtkampf an diesem Montag entschieden: Die Menschenmenge hat seit Ende September stark zugenommen. Es ist nun die Frage, ob der Staat, um den Zustrom zu stoppen, Gewalt einsetzen werde. Die Situation ist äußerst gereizt. Doch mehr als 80 000 Demonstranten machen deutlich: Das Volk ist auf den Straßen. Die Staatsmacht verspielt an diesem Tag die Staatsräson.

12. Oktober: In einer Erklärung des Politbüros des ZK der SED wird Reformbereitschaft signalisiert. Die Vorsitzenden der Blockparteien bekräftigen bei Honecker ihre "engagierte Mitverantwortung für den Sozialismus". In einer Stellungnahme des Neuen Forums wird die Gesprächsbereitschaft der SED begrüßt: "Dieser echte ... Dialog hat ... zu erfolgen bei Anerkennung der Eigenstaatlichkeit der DDR ... auf dem Boden der Verfassung."

Peter D. Krause wurde 1964 in Weimar geboren und war Mitbegründer des Neuen Forums in Jena 1989. Krause promovierte nach dem Studium der Geschichte und Germanistik im Fach Rhetorik.

Montag, 16. Oktober, Leipzig:
Da alle Grenzen zu sind,
steigt der innere Druck. An diesem Abend demonstrieren 120 000 Menschen. Der Machtzerfall ist offensichtlich. Der Führungsanspruch der SED wird offen in Frage gestellt. Und die Radikalität der Forderungen wird sich von Montag zu Montag steigern. Kundgebungen werden fortan aus immer mehr Städten gemeldet.

17. Oktober: Das Neue Forum reagiert auf die Stimmung in Leipzig: "Wir sind eine Bürgerinitiative, die den Sozialismus befürwortet ... Wir treten offen gegen Wiedervereinigungs-Bestrebungen ... auf."

18. Oktober: Honecker wird im Politbüro zum Rücktritt gezwungen. Am 23. Oktober demonstrieren mehr als 250 000 Menschen in Leipzig: "Das ZK ins Altersheim. Egon soll der Pförtner sein." Einen Tag darauf finden Kundgebungen in vielen Städten statt. Plauen: 50 000 Teilnehmer, Erfurt: 30 000, Jena: 10 000. Die Zeit der bloßen Reform-Forderungen ist vorbei.

28. Oktober, ein wichtiger Tag: Reisen in die C?SSR wird wieder paß- und visumfrei. Einen Tag später gründet sich der Demokratische Aufbruch (DA) als Partei. In der Grundsatzerklärung heißt es: “Die kritische Haltung des DA zum real existierenden Sozialismus bedeutet keine Absage an die Vision einer sozialistischen Gesellschaftsordnung." Die DDR solle als "Friedensfaktor" in Europa erhalten bleiben.

Am 30. Oktober steigt in Leipzig das, was irreführend als die "Wende in der Wende" bezeichnet wird: Die Revolution wird zur nationalen: "Auf die Dauer ohne Mauer!"

4. November: Großveranstaltung in Ost-Berlin mit 250 000 Menschen. 28 Redner treten auf, darunter "kritische" Künstler, viele SED-Reformer. Während in Leipzig längst gerufen wird: "Schluß mit sozialistischen Experimenten!", versuchen die Reformer in Ost-Berlin, die öffentliche Meinung unter Kontrolle zu bekommen. Stefan Heym schwärmt: "Der Sozialismus, der richtige, den wir endlich erbauen wollen ..." Der Schriftsteller Christoph Hein findet, "zum demokratischen Sozialismus" gebe es keine Alternative; die Bürger wollten nur "Partner einer geläuterten" SED im Reformprozeß sein. Und Christa Wolf sieht eine "revolutionäre Erneuerung", die die "sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße" stelle. Währenddessen gestattet die DDR-Regierung die freie Ausreise über die C?SSR nach Westen. Damit ist die Mauer de facto überflüssig; die deutsche Frage ist eine tagespolitische. Innerhalb von zwei Tagen reisen 25 000 Menschen “illegal” über die C?SSR aus.

Am 9. November überschlagen sich die Ereignisse: Das Innenministerium bestätigt die Anmeldung des Neuen Forums. Christa Wolf, Stefan Heym, Bärbel Bohley, andere Bürgerrechtler fordern zum "Hierbleiben" auf, appellieren in peinlicher Selbstüberschätzung: "Fassen Sie Vertrauen!" Schließlich: Der Entwurf des neuen Reisegesetzes wird als sofortige Öffnung der Grenze aufgefaßt. Am Montag, dem 13. November, herrscht auf den Leipziger Straßen die Grundstimmung "Deutschland einig Vaterland!"

In der ersten Dezemberhälfte werden 17 000 Übersiedler gezählt, 320 000 Menschen haben seit Jahresbeginn die DDR verlassen. Anläßlich des Kanzlerbesuchs am 19. Dezember wird aufgerufen zu einer Demonstration für den Erhalt der DDR, "gegen Ausverkauf und Wiedervereinigung"; unterzeichnet ist der Aufruf von: Umweltbibliothek Berlin, Initiative für Frieden und Menschenrechte, Kirche von unten ...

Die DDR war, was die Information betrifft, keine "geschlossene" Gesellschaft. Die Westmedien sorgten nicht nur für die Bilder aus Budapest oder Leipzig, sondern westdeutsche Auswahl und Kommentierung prägten auch die Sicht der DDR-Bürger auf ihre eigenen Angelegenheiten. Gerade die "DDR-Opposition" ist nicht unwesentlich ein Produkt von ARD und ZDF.

Die Enttäuschung der Bürgerrechtler nach den Märzwahlen 1990 war ebenso groß wie die Überraschung westlicher Kommentatoren. "Interpretation" setzte ein. Der Ruf "Wir sind das Volk!" wurde zur Forderung nach einer reformierten DDR umgedeutet, es wurde über das Abwürgen des neuen sozialistischen Versuchs durch das Öffnen der Grenzen, über die Verhinderung einer eigenstaatlichen Entwicklung lamentiert. Von Blendung, Manipulation, von "bedenklichen Emotionen" (Wolfgang Ullmann) war die Rede, dem Volk wurde "Undankbarkeit" vorgeworfen: die Revolution sei den Bürgerrechtlern "geklaut" worden (Ehrhart Neubert). Schorlemmer meinte: "Es war eine Revolution bis exakt zum 9. November. Und dann ist sie ... in eine Restauration hinübergeschlittert." Konrad Weiß hatte schon im Herbst 1989 gefordert: "Ich bin der Meinung, daß beide deutsche Staaten sich verändern müssen, daß sowohl die DDR wie die Bundesrepublik Reformen dringend nötig haben." Das Neue Forum erklärte zum Staatsvertrag: "Die DDR-Regierung beugt sich dem Diktat der Sieger in Bonn ... Der Umsturz im Herbst hat zum Austausch der Regierenden geführt – die Methoden sind geblieben."

Um solche Thesen zu stützen, wurde früh die Chronologie der Wende verengt: auf die Zeit vom 7. Oktober bis etwa Mitte November. So konnte der Eindruck entstehen, die Krise der DDR wäre von den Bürgerrechtsgruppen politisch ausgelöst, der Massenprotest von ihnen initiiert worden: "Ohne das Vorpreschen kleiner Gruppen von Bürgerrechtlern, allen voran das Neue Forum, hätte es im Oktober ’89 schwerlich Massendemonstrationen gegeben. Wenige mußten den Bann brechen, der auf öffentlichem Protest lag, damit viele folgen konnten", meint Heinrich-August Winkler. Das ist falsch. Im Herbst 1989 ereignete sich ein Umsturz ohne ideologische Avantgarde.

Richtig ist die Reihenfolge, die Hermann Weber nennt: Nach der Schaffung der Rahmenbedingungen durch Gorbatschow wurde "zum zweiten Faktor für die Veränderungen in der DDR die Öffnung der Grenzen für die Ausreisewilligen durch das demokratisierte Ungarn. Aus den Flüchtlingsströmen ergab sich ein dritter Faktor: Erstmals seit 1953 gingen in der DDR wieder Menschenmassen protestierend auf die Straße." Hier stimmten auch Ursache und Wirkung. Die sich in einer ausweglosen wirtschaftlichen Situation befindliche DDR wurde schon im Juli, August, September politisch destabilisiert: durch die Massenflucht.

Die offene nationale Frage, millionenfache Flucht und Übersiedlung in den Westen Deutschlands haben die DDR in ihrem Bestehen bedrohlich begleitet. Es war die radikalste Kritik am System, nämlich die klare Entscheidung für den "rückschrittlichen Kapitalismus". Sicher hat die Medaille zwei Seiten. So entschärfte sich dadurch das Unruhepotential, konnte durch legale Abwanderung oder Ausbürgerung der oppositionelle Druck gesteuert werden. Andererseits bedrohte die Übersiedlung von Millionen nicht nur die Wirtschaft. Die Mauer war Zeichen mangelnder Legitimation, die Toten an der Grenze entlarvten den Charakter des Systems. Und im Sommer 1989 war die Fluchtwelle Auslöser der offenen Krise.

Christian Führer, Pfarrer an der Nikolaikirche, beschreibt die verschiedenen Gründe für das Verlassen des Landes: "Bei den Leuten, die weggehen wollten, haben weniger wirtschaftliche Gesichtspunkte vom Wohlstandsdenken her eine Rolle gespielt als vielmehr berufliche Frustration, daß man einfach ohne Partei nicht weitergekommen ist und so weiter. Das, gepaart mit einer SED-Bürokratie und ihrem Machtanspruch, der den einzelnen einfach überrollte, das haben die Leute irgendwann nicht mehr verkraften wollen." Das Begehren der Ausreise war "objektiv" sehr politisch. (Wenngleich man es einigen, die von Besuchsreisen nicht wiederkehrten oder aus dem Burgenland winkten, nicht zugetraut hätte – aber um so schlimmer für die SED.)

Die seit den siebziger Jahren steigende Zahl der Ausreiseantragsteller bereitete der DDR große Schwierigkeiten. Anfangs half Kriminalisierung: Siegmar Faust etwa wurde 1974 für sein Beharren auf Ausreise zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Das MfS (Ministerium für Staatssicherheit, kurz Stasi) gab für Januar bis Juni 1989 125 000 neue Anträge an. Auf dem Kirchentag im Sommer 1989 wurde geschätzt, daß jeder fünfte junge Erwachsene in Leipzig einen Antrag gestellt hätte. Diese Zahl ist zu hoch, spiegelt aber die allgemeine Wahrnehmung.

Die Erfüllung seiner, so steht es in einem Papier der Bezirksverwaltung Erfurt des MfS, "wesentlichsten Aufgabe", das "Zurückdrängen" der Ausreisewilligen, überforderte die Sicherheitsorgane immer mehr. Ein Stasi-Offizier über die Lage im Frühjahr 1989: "Dieses Problem konnte mit ... der Gesamtheit aller Mittel, die wir zur Verfügung hatten, nicht gelöst werden. Die Leute waren in keiner Weise mehr zu überzeugen. Man hätte ihnen höchstens noch eine Kette an den Fuß legen können."

Der ungarische Coup im Mai stellte schlagartig die Existenz der DDR in Frage, denn es deuteten sich vergleichsweise risikoarme Fluchtwege an. Durch die faktische Maueröffnung am 11. September brach ein tragender Pfeiler der SED-Herrschaft weg: die Verfügungsgewalt über die Freizügigkeit. Als Ende August die Pläne Budapests über eine Grenzöffnung in Ost-Berlin bekannt wurden, soll sich folgendes abgespielt haben: "Der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, hatte eine Notkonferenz einberufen ... Der wütende Greis soll im Verlauf die Führung Ungarns als ,Banditen‘ und ,Halunken‘ beschimpft haben, die ,an die Wand gestellt‘ gehörten."

Die Ausweglosigkeit der DDR-Regierung beschreibt auch der damalige sowjetische Außenminister Schewardnadse rückblickend: "Der Massenexodus der Deutschen aus der DDR in den Westen hätte nur gestoppt werden können, wie die kühnen Einzelgänger an der Mauer gestoppt wurden: mit Schüssen ... Wäre aber das in der Atmosphäre des Herbstes ’89 geschehen, so wäre mit Hunderten von Menschen auch die Politik selbst umgekommen."

Die Fluchtwelle über Ungarn und über die Botschaften brachte die ökonomisch desolate DDR ins Wanken – nichts anderes, kein Reformgerede, keine "offene Arbeit", keine Basisgruppen. Das alles hatte es zehn, fünfzehn Jahre lang gegeben ohne wirkliche Relevanz. Erst die Krise im Sommer 1989 brachte die Möglichkeit für die Bürgerrechtler, Einfluß zu gewinnen.

Das Ende der DDR war am 11. September unwiderruflich gekommen. Seit Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze war das System zwischen die Räder geraten. Erstens wurde der Flüchtlingsstrom immer mächtiger. Zweitens saßen viele Ausreisewillige noch im Land, die sich zum Protest herausgefordert fühlten. Die Bilder aus Ungarn und Prag bewirkten Torschlußpanik, DDR wurde entziffert als "Der doofe Rest". Angestaute Wut, Verzweiflung brachen sich Bahn. Drittens: Schon lange hatte das Ausreisen höchst irritierend auf die gesamte Bevölkerung gewirkt. Harald Wagner, Pfarrer in Leipzig: "In Verbindung damit, daß die anderen in den Westen gingen, haben die Leute dann gesagt: entweder – oder. Wir machen nicht mehr mit. Leute, die 45, 50, 55 Jahre alt sind, die früher nie was gemacht haben, ... die zwar geschimpft und sehr gut gesehen haben, was alles schiefläuft, die haben jetzt Angst gehabt, daß sie am nächsten Tag ihre Kinder aus dem Fernsehen in Prag oder Budapest winken sehen. Das hat sie motiviert."

Der 11. September war nicht nur Anlaß für die SED-Reformer, mit Moskaus Rückendeckung in die Offensive zu gehen, auch viele Bürgerrechtler wurden ermutigt. Jens Reich über seine Motivation: "Seit vielen Jahren schon quält uns alle zunehmend diese Auswanderungsbewegung ... Wir haben aus den verschiedensten Gründen viele Freunde verloren, im weiteren Kreis der Kollegen sind sehr viele Weggänge. Das war so bitter, dieses Gefühl, auf einem Bahnhof im Wartesaal zu sitzen, und ringsherum bricht alles auf. Das war zum Schluß unerträglich und kulminierte in den Ereignissen des Sommers."

Legales wie illegales Weggehen war niemals ein bloßes Herausstehlen. Flucht aus dem Mauer-Staat bedeutete Haft- oder Lebensgefahr. Und selbst das Beantragen der "Ständigen Ausreise" in den achtziger Jahren war nicht das Wählen des einfachsten Weges. Der Vorwurf, Dableiben sei gefährlicher gewesen, übersieht wissentlich die Willkür, der Antragsteller ausgesetzt waren, das jahrelange Warten im rechtsfreien Raum, ausgeliefert einem undurchschaubaren Verfahren; der Vorwurf übersieht die Risiken, die einschneidende Verschlechterung der Lebenslage in der DDR, Schikanen und Kriminalisierung. Dagegen drohte oppositionellen kirchlichen Amtsträgern in der Regel Disziplinierung durch die Kirche selbst oder eine Überredung zur Ausreise. Die Deckung, aus der Pastoren heraus widerständig handelten, war unvergleichlich höher als die "normaler" DDR-Bürger.

Die Antragsteller und Flüchtlinge waren politischer Auslöser des Umsturzes? Man darf die Geschichte der Demonstrationen in den achtziger Jahren nämlich auch so schreiben (wobei spektakuläre Fluchtaktionen wie der Fluchtversuch per Ballon ausgelassen seien): 1983 kommt es zu wiederholten Protestversammlungen im Stadtzentrum Jenas von bis zu 200 Personen für ihre Ausreise. 1984 flüchten sechs DDR-Bürger in die US-Botschaft und beginnen einen Hungerstreik. Derartige Verzweiflungstaten zeigen steigende Tendenz. Anfang Juli 1988 suchen Antragsteller im Erfurter Dom Zuflucht; im November des Jahres läßt der Weimarer Superindendent Reder eine Gruppe von Antragstellern aus der Herderkirche von der Polizei abführen.

In Neuberts Chronik "Die protestantische Revolution" ist über den 17. Januar 1988 zu lesen: "Am Rande und im Vorfeld der traditionellen Gedenkdemonstration der SED für Luxemburg und Liebknecht in Ost-Berlin nahmen Sicherheitsorgane über einhundert Personen fest, zumeist DDR-Bürger, die auf ihre Ausreiseanträge hinweisen wollten, aber auch Mitglieder kirchlicher und unabhängiger Menschenrechtsgruppen, die für Veränderungen in der DDR demonstrieren wollten." (In die Historie jedoch ist, gemäß westlicher Berichterstattung, allein das "aber auch" eingegangen.)

Oder Leipzig: Dort gab es seit 1982 Friedensgebete, doch erst dank der Okkupation durch Antragsteller wurden sie politisch relevant. Schon am 13. März 1989 versammelten sich nach dem montäglichen Bittgottesdienst in der Nikolaikirche 300 "Ausreiser" zum Marsch in Richtung Thomaskirche. Zum 8. Mai des Jahres steht in einer Leipziger Wende-Chronik über einen ähnlichen Zug: "An Demonstrationen mit klar formulierten Zielen nehmen immer mehr Nichtantragsteller teil"; die Majorität hatten sie jedoch erst im Oktober.

So geht es montags weiter. Etwa 22. Mai: "Nach dem Friedensgebet bildeten 350 zumeist Ausreiseantragsteller einen Demonstrationszug. Die Innenstadt war bereits eine Stunde vorher durch Polizeiketten abgeriegelt (worden) ... Es kam zum Schlagstockeinsatz." Hier ist die Quelle der Montagsdemonstrationen. Oder Dresden; Superintendent Christof Ziemer: Durch die "Eskalation des Ausreiseproblems kam es zu den ersten großen Menschenansammlungen ... Der Prozeß, der sich daraus entwickelt hat, ist die Startphase der Veränderungen in Dresden gewesen."

Das Geflecht der Motivationen, die bei der Masse bewirkten, auf die Straße zu gehen, ist dicht. Klar aber war: Angesichts der durch Ausreise oder Flucht ausgelösten oder offenbarten Krise mußte sich etwas Entscheidendes ändern. Der aus vielerlei Gründen angestaute Unmut des Volkes suchte jetzt nach einer revolutionären Form – und die wurde von Bürgerrechtsgruppen geboten. Der Aufbruch verlangte nach Kristallisationspunkten, an die sich die Ungeduld anlagern konnte; gefordert wurde eine Struktur, um die Ablehnung der politischen Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen – und diese bot ein im Westfernsehen ausgerufenes "Neues Forum".

Eigentlich bestand diese Vereinigung als subversive bloß aus dem Ruf: "Neues Forum zulassen!" Es war ab Mitte Oktober zusammenführendes Symbol der Veränderung – immerhin, aber eben nicht mehr als ein Symbol. Nicht die Bürgerrechtler haben die Massen in Bewegung gesetzt, sondern umgekehrt. Das Volk hat das Neue Forum für kurze Zeit an die Spitze der Bewegung gesetzt. Die Bürgerrechtsgruppen haben den Umsturz in der entscheidenden Phase auch nicht organisiert. Die Elaborate Ostberliner Dissidenten wurden in der Provinz so gut wie nicht zur Kenntnis genommen; überhaupt hinkten jene Stellungnahmen der revolutionären Lawine hinterher. Niemand hat zu den ersten Großdemonstrationen aufgerufen. Diese entwickelten sich in Dresden und Leipzig eigenständig, nicht zuletzt aus der Ausreisebewegung heraus. Es war bekannt, daß Besucher des montäglichen Bittgottesdienstes nach 17 Uhr von der Nikolaikirche über den Karl-Marx-Platz zogen – wenn, dann äußerte sich dort öffentlich Protest. Die Massen versammelten sich spontan. Der Einfluß der Bürgerrechtler beschränkte sich auf Ermahnungen zur Gewaltlosigkeit. Der Umsturz wäre ohne diese Gruppen kaum anders verlaufen. Nur in den kleineren Städten sah es etwas anders aus: Hier wurde der verzögerte Protest durch Bürgerinitiativen gelenkt, wurde in einer zweiten Phase der Wende an kommunalen "Runden Tischen" ordnungspolitische Arbeit geleistet.

Konrad Weiß zeigte sich enttäuscht: "Das scheint mir heute ein entscheidender Fehler gewesen zu sein: Daß wir im Herbst versucht haben, demokratische Spielregeln einzuhalten. Aber wenn die Bürgerbewegungen im Herbst machtbewußt gewesen wären und Regierungsverantwortung übernommen hätten, dann wäre die Entwicklung anders verlaufen." Eine skurrile Überschätzung. Günter Schabowski, einst Politbüro-Mitglied, meinte glaubhaft, die Bürgerrechtler seien ernst genommen worden wegen ihrer guten Westkontakte: "Sie ärgerten uns zwar, aber sie wurden nicht als existentielle Bedrohung empfunden." Ein Hinweis auf die Bedeutung ist die Zahl: Man darf im September 1989 von etwa 300 Bürgerrechtsgruppen mit je fünfzehn Vertretern ausgehen: also 4000 bis 5000 Personen. Nur achtzig bis hundert galten als harter Kern. Bernd Okun hat recht: "Die Bürgerbewegung war eine sehr kleine Bewegung, und nur die westlichen Medien erzeugten die Vorstellung von einer gewaltigen Kraft. Bärbel Bohley war einmal am Tag im Deutschlandfunk und vor der ZDF-Kamera, das war der Schein. In Wirklichkeit repräsentierte die Bürgerbewegung nicht mal ein Prozent der Bevölkerung." Es bestand ein Mißverhältnis zwischen ihrer realen Macht und ihrer öffentlichen Präsenz.

Opposition ist politisch, ist programmatisch. Hatten die Bürgerrechtsgruppen eine Programmatik? Der Gründungsaufruf des Neuen Forums erhob die Methode zum Ziel: Dialog. Dieser galt vielen Bürgerrechtlern als etwas schlechthin Gutes. Die inhaltliche Schwammigkeit drückte sich aus in basisdemokratischen Floskeln. Das "Neue Forum" war nie in der Lage, über die Kritik an der Machtfülle der SED und über das Einklagen allgemeiner Bürgerrechte hinaus strategische Konzepte vorzulegen, geschweige, politische Führung zu übernehmen. Die Revolution ging von Anfang an eigene Wege. Die politische Schwäche fiel so lange nicht auf, wie die "negativen" Ziele mit denen der Straße übereinstimmten. Als die Macht gestürzt war, die Initiativen sich hätten politisch positiv festlegen müssen, versagten sie.

Karl-Dieter Opp schreibt in einer Sachuntersuchung über das Geschehen in Leipzig: Während des Umbruchs "richteten die Vertreter der Bürgerbewegung ihre ganze politische Energie auf die Zerschlagung der Stasi. In ihr sahen sie das Grundübel des real existierenden Sozialismus. Dabei haben sie die sich abzeichnenden neuen Tendenzen auf den Demos nicht wahrgenommen oder darauf reagiert." Wie kam es zu dieser Wahrnehmungs- und Reaktionsschwäche? Zunächst ist die Rechtfertigung falsch, die drängende Tagespolitik habe nicht zugelassen, durchdachte Alternativen zu entwickeln. In der Idylle der Pfarrhäuser war nichts anderes getan worden, als Utopien hin und her zu wenden. Der Sozialismus aber war im konkreten Alltag gescheitert. Die DDR ist an den uneinlösbaren materiellen Versprechungen und an der von vielen Bürgern deutlich erkannten Gefahr gescheitert, daß ein am Westen sich orientierendes Lebensniveau nicht mehr lange gewährleistet werden könne. Daß die Vision des Aufbruchs in eine neue DDR ohne ökonomische Grundlage gewesen ist, wurde auf der Straße klarer gesehen als von den linken Dissidenten.

Vielleicht hat die Intelligenzija den Grund der Wende nie eigentlich verstanden, vielleicht war er ihr zu banal. Die Bürgerrechtler waren auf eine Abschaffung des SED-Sozialismus aus, nie aber wurde eine fundamentale Veränderung des Systems verlangt. Sebastian Pflugbeil plädierte noch Ende Oktober 1989 dafür, die Reform mit den Genossen gemeinsam durchzuführen, immerhin sei man aufgestanden, um die verschüttete Hoffnung auf Sozialismus und DDR zu retten. Und Rolf Henrich riet, Krenz eine Chance zu geben. Der Sozialismus in der DDR sollte durch Reformen gerade erhalten werden. Jochen Läßig, damals Sprecher des Neuen Forums in Leipzig: "Wir haben gedacht, daß es so etwas wie einen demokratischen Sozialismus geben könnte. Aber wir haben das damals nicht voll durchdacht ... Wir hatten nur bestimmte Programmpunkte, also Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Pluralismus ... Wir haben gedacht, daß es im Rahmen – sagen wir mal – nicht des alten Systems, aber im Rahmen eines anderen Systems als dem der Bundesrepublik möglich ist." Wirtschaftlich vor allem dachte man sozialistisch: Konkrete Aussagen finden sich selten, und das Allgemeine liest sich so: "Die Hauptaussage ist die, daß wir festhalten wollen an Strukturen der Vergesellschaftung. Die SED-Herrschaft hat die Neuordnung der Wirtschaft, die nach 1945 einmal Konsens aller politisch Denkenden gewesen ist (sic!), diskreditiert", so Wolfgang Ullmann.

Ein politisches Grundziel der Bürgerrechtler war das Festhalten an der Zweistaatlichkeit. Schorlemmer sagte im Juni 1989 in West-Berlin: "Wem ist an Instabilität gelegen? ... Der deutsche Traum, denke ich, ist ausgeträumt und sollte ausgeträumt bleiben." Bärbel Bohley bekundete am Morgen des 10. November Trauer über die Maueröffnung; von anderen Dissidenten wurde vor Konterrevolution gewarnt. In dem – auf Kohls Zehn-Punkte-Programm reagierenden – Aufruf vom "Für unser Land" vom 26. November 1989, der auch von zahlreichen Bürgerrechtlern (Pflugbeil, Poppe, Schorlemmer, Weiß und anderen) unterzeichnet ist, heißt es: Wenn es nicht gelänge, die Eigenstaatlichkeit der DDR zu erhalten, dann "müssen wir dulden, daß ... ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die DDR durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird. Noch haben wir die Chance, ... eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln." Die Mehrheit der Dissidenten war ge-fangen in der herrschenden Ideologie. So kommt es ab Mitte November zur seltsamen Allianz: "Es gibt nur zwei Minderheiten, die noch an einem sozialistischen Versuch interessiert sind: die Machthaber von gestern – und ihre Opfer: linke Christen und radikale Linke." (Wolf Biermann.)

Das programmatisch Diffuse und Reformsozialistische hatte allerdings ein Ergebnis, das weder eine sozialdemokratische noch eine offen antisozialistische Partei hätte erreichen können: Das Neue Forum ließ sich schwer kriminalisieren. Damit war die erste Hemmschwelle für viele Menschen niedrig genug, mit gemäßigtem Risiko seine Zulassung zu fordern. Das Neue Forum wurde so wider Willen systemsprengend. Die Naivität und inhaltliche Unfestgelegtheit hat auf diese Weise viel zum friedlichen Verlauf der Revolte beigetragen. Kein Funktionär mußte um sein Leben bangen; der Widerstand des Machtapparats verhärtete nicht.

Mit ihrem utopischen Ernst waren die Bürgerrechtler von Wirklichkeit und Denken in der DDR entfernt, sie waren weder ihren persönlichen Lebenserfahrungen noch ihren Träumen nach repräsentativ für die Bevölkerung. Das elitäre Schwärmen von der Basisdemokratie war schlicht überholt. Die formulierten Utopien verloren nicht erst nach der Wende Einfluß und gestalterische Kraft. Beides hatten sie nie besessen. Der protestantisch geprägte "Über-Moralismus" (Richard Schröder), das Gerechtigkeits-Pathos, der tugendhafte Rigorismus und der sozialistische Idealismus: all das war gut gemeint, aber auf der Straße interessierten zuerst die tatsächlichen Menschen – und nicht die visionäre "Menschheit", wie der erste Aufruf des Neuen Forums fordert.

Es soll hier weder der Volksaufstand noch das Volk glorifiziert werden. Es gab natürlich in der DDR eine Anpassungsmentalität (wie im Westen auf andere Weise nicht weniger). Dennoch war die SED gerade unter Arbeitern nie angesehen. Arrangieren hieß nicht identifizieren. Und 1989 hat erst die massenhafte Teilnahme jüngerer Arbeiter den Demonstrationen die entscheidende, die umstürzlerische Kraft gegeben. Auch die nationale Einheit mußte gegen den Willen der meisten Bürgerrechtler vollzogen werden. Die letzte Losung: "Wir sind ein Volk!" griff die Rufe auf, die die Demonstrationen zuerst prägten: "Wir wollen raus!"