Rußland: Putin hält ihm den Rücken freiJelzins
überraschender Rücktritt hatte nicht nur politische Gründe
Die Spekulationen darüber, daß der am 31. Dezember 1999 zurückgetretene russische
Präsident Boris Jelzin vor allem deshalb sein Amt vorzeitig aufgab, weil er sich von dem
im August des letzten Jahres zum Ministerpräsident ernannten Wladimir Putin Schutz vor
Strafverfolgung erhofft, haben in den letzten Tagen erneut Nahrung erhalten. Mit der
Übernahme des Präsidentenamtes hat Putin ein Dekret erlassen, das dem 68jährigen Jelzin
neben der Immunität vor Strafverfolgung auch eine Altersversorgung auf Lebenszeit, die
Nutzung eines Landsitzes der Regierung, Leibwächter sowie Gesundheitsversorgung für ihn
selbst und seine Familie gewährt.
Bereits wenige Tage nach Erlaß dieses Dekretes machen neue Vorwürfe die Runde, die
Jelzin in direkte Verbindung mit Geldwäschegeschäften bringen. Das US-Nachrichtenmagazin
"Newsweek" will zum Beispiel erfahren haben, daß Jelzin auf Schweizer
Bankkonten über ein Guthaben von mehr als 15 Millionen Dollar verfügt. Diese Konten
sorgten bereits im vergangenen Sommer für Gesprächsstoff. Damals wurde Geldwäsche durch
russische Regierungsvertreter und Geschäftsleute vermutet. Aufgeklärt werden konnten
diese Geschäfte, in die auch die Jelzin-Tochter Tatjana Djatschenko verwickelt sein soll,
bis heute nicht. Schweizer Ermittler brachten jetzt aber erstmals ausdrücklich den Namen
Jelzin ins Spiel.
Daß Wladimir Putin Jelzin trotz aller Vorwürfe den Rücken freihält, muß gewichtige
Gründe haben. Auffällig bleibt, daß es für die Absetzung des Putin-Vorgängers
Stepashin im August 1999 keine nachvollziehbaren politischen Ursachen gab. Im Gegenteil:
Die russische Wirtschaft zeigte unter Stepaschin Anzeichen einer leichten Erholung. Jelzin
ging es aber wohl in erster Linie darum, die Macht auf eine Person zu übertragen, die ihm
die Möglichkeit eröffnet, sein persönliches Schicksal und das seiner Familie zu
sichern.
Erhebliches Kopfzerbrechen bereitete Jelzin im Frühjahr 1999 insbesondere die
Aufdeckung zahlreicher Korruptionsskandale durch Generalstaatsanwalt Juri Skuratow, den
Jelzin denn auch prompt entließ. Diese Entscheidung rief den massiven Widerstand des
Förderationsrates hervor, der über das Amt des Generalstaatsanwaltes bestimmt. Auch die
Kommunisten in der Duma machten gegen den Präsidenten mobil. Dazu kam noch der Nato-Krieg
im Kosovo, der zu einer Stärkung der nationalen Gegner Jelzins führte. Der damalige
Premier Primakow wuchs in dieser Situation mehr und mehr in die Rolle eines Einigers der
Oppositionskräfte gegen den Kreml-Chef hinein. Die Folge: Primakow mußte gehen, und
Stephaschin kam. Dieser schaffte es allerdings nicht, die Auseinandersetzungen zwischen
Anatoli Tschubaijs, dem Vorsitzenden des russischen Energieriesen JES-Rossija und dem
zwielichtigen Finanzmagnaten Boris Beresowski um die finanziellen und Rohstoffreserven
Rußlands in den Griff zu bekommen.
Putin, ein bis zu seinem Amtsantritt eher farbloser Politiker, ist nach Primakow und
Stepaschin bereits der dritte Premierminister, der dem Geheimdienstmilieu entstammt. Er
wurde 1952 in Leningrad geboren, schloß 1975 ein Jura-Studium an der dortigen
Universität ab und arbeitete bis zum Zerfall der Sowjetunion in der Ersten Hauptabteilung
des KGB. Sein damaliges Aufgabengebiet: Auslandsspionage in der DDR in der Zeit von 1984
bis 1990. Nach seiner Rückkehr nach Rußland unterstützte er zunächst Anatoli Sobtschak
bei der Wahl zum Bürgermeister von St. Petersburg. Nach dessen Kür besetzte Putin
Schlüsselpositionen in der Petersburger Stadtregierung. Als Sobtschak bei der Wiederwahl
im Jahre 1995 scheiterte, ging Putin nach Moskau, wo er hohe Positionen in der
Präsidentenadministration übernahm.
Der politische Einfluß Putins vor seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten muß als
eher gering eingestuft werden. Neben seinen guten Verbindungen zum Geheimdienst ist er eng
mit den sogenannten Reformern um Anatoli Tschubaijs verbunden, die von Jelzins immer
wieder unterstützt worden sind. Ob es Putin gelingt, daß Diktum Stepaschins, daß
Rußland eine "Bananenrepublik ohne Bananen" sei, zu entkräften, erscheint vor
dem Hintergrund seiner Nähe zur "Jelzin-Familie" eher fraglich. Stefan Gellner