Altstadt-Rekonstruktion:
Ein Stück historisches Stettin
Bis 2002 will eine Genossenschaft 140 Häuser wiedererrichten
Von Friedrich NoloppDie Bürgerhäuser aus der Barock-Zeit und Fassaden der
Jahrhundertwende reihen sich am Stettiner Heumarkt aneinander, als hätten die Häuser
schon immer dort gestanden. Dabei sind die zwei kompletten Altstadtviertel in der Nähe
des Schlosses der Pommernherzöge seit 1995 auf historischen, zum Teil aus dem Mittelalter
stammenden Fundamenten neu entstanden.
"Auf insgesamt 16 Hektar nach dem Krieg plattgemachten und teilweise bis zu zwei
Meter mit Trümmerschutt aufgeschütteten Flächen am linken Oderufer baut unsere
Wohnungsgenossenschaft Podzamcze bis 2002 ein Stück altes Stettin wieder
auf", sagt deren Vorsitzender Jozef Kalinowski.
Von insgesamt 140 Häusern konnten bislang über 50 fertiggestellt werden. 38 davon
seien schon verkauft worden, betont Kalinowski. Die Besitzer richteten in ihnen
Geschäfte, Boutiquen, Gaststätten, Kellerkneipen sowie Büros und Wohnungen ein.
Architekturprofessor Stanislaw Latour, 1927 in Warschau geboren und seit den 50er
Jahren in leitender Position in der Denkmalpflege tätig, hat den Wiederaufbau
historischer Städte miterlebt. In Warschau wurde die Altstadt mit Abrißziegeln aus
Stettin und Küstrin sowie anderen Städten detailgetreu wiedererrichtet, auch Danzig
entstand neu. In Posen und Breslau errichtete man jeweils die zerstörten Altmärkte nach
altem Muster.
Als Latour Anfang der 80er Jahre mit seinem Vorschlag, die Altstadt von Stettin neu
entstehen zu lassen, einen Wettbewerb gewann, bestand allerdings ein gravierender
Unterschied zu den vorherigen Leistungen polnischer Bauleute. "Hier gab es keinen
Polen, der sich erinnern konnte, wie es einmal war, und so gingen wir neuen Einwohner der
Stadt in die Archive", erinnert sich Latour. Bis "Podzamcze" mit der Stadt
im reinen war, vergingen Jahre. Im Frühling 1995 erfolgte dann der erste Spatenstich.
"Wir haben mit unserem Projekt in mehrfacher Hinsicht Glück gehabt", meint
Latour mit Blick auf den Stadtplan. Auf der Hochfläche westlich des Schlosses sind nach
dem Krieg neue Wohnviertel in Ziegel- und Plattenbauweise entstanden. Der Baugrund, auf
dem das alte Stettin einmal entstand, war demgegenüber für die Architekten der 50er und
60er Jahre wohl zu schlecht. Neuere Fotos zeigen zwischen der nach dem Krieg aus dem Boden
gestampften Schnellstraße an der Oder und dem Schloß lediglich hohe Bäume.
41 Stettiner Architekten haben die Entwürfe für die Häuser der ersten beiden
Altstadtviertel gefertigt. "Bei den Geschoßhöhen, der Größe der Fenster sowie der
Form der Giebel und Dächer mußten wir uns an die Vorgaben der Denkmalpfleger
halten", berichtet der junge Architekt Piotr Fiuk.
Mehrere Gebäude, darunter die Bürgerhäuser am Heumarkt, entstanden nach alten
Plänen und Fotos bis ins letzte Detail neu. Doch eine Kopie wird die wiedererrichtete
Altstadt nicht sein. Schließlich war Stettin noch bis ins 19. Jahrhundert von
Festungsanlagen umgeben und konnte sich nicht ausdehnen. Enge Hinterhöfe waren
zwangsläufig die Folge. Heute möchte niemand mehr so wohnen.