29.03.2024

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08.01.00 "Vorwärts und nicht vergessen"

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 08. Januar 2000


Gesellschaft:
"Vorwärts und nicht vergessen"
Bei allen Unterschieden prägten viele Parallelen die mittel- und westdeutschen Jugendgenerationen
Von GEORG PREUSS

Als mit dem Fall der Berliner Mauer zugleich auch der Staat der DDR in den Staub der Geschichte sank, wurde offenkundig, in welch einem geringen Maße sich die Bevölkerung in all den Jahren mit dem SED-Regime identifiziert haben mußte. Und dies, obwohl die DDR seit dem ersten Tag ihres Bestehens höchsten Wert auf Agitation und Propaganda gelegt hatte. In der Tat konnte sie bis zu ihrem Ende einen Zustand der relativen Ruhe und Zufriedenheit registrieren, der allerdings nie mehr war als bloßes Arrangement innerhalb der Mechanismen einer Diktatur. Von Anfang an haftete der Staats- und Parteiführung der Geruch an, lediglich ausführendes Organ der sowjetischen Besatzungsmacht zu sein. Daraus resultierte letztlich der tiefe Verdacht und das permanente Mißtrauen, mit dem die SED dem in ihrem Machtbereich verbliebenen Volk begegnete.

Eine neue Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik in Berlin hat sich nun mit dem jeweiligen Anpassungsgrad der unterschiedlichen Generationen an das DDR-Regime befaßt (Albrecht Göschel: Kontrast und Parallele – kulturelle und politische Identitätsbildung ostdeutscher Generationen/Stuttgart 1999). Göschel hat auf der Basis biographischer Tiefenforschung die Entwicklungen in der DDR geborener bzw. aufgewachsener Generationen bis zur Wiedervereinigung 1990 verfolgt und jeweils den westdeutschen Jahrgängen gegenübergestellt.

Die 30er-Jahre-Generation teilt mit ihren Altersgenossen in der Bundesrepublik als zentrales Erlebnis die Kriegserfahrung. In Mitteldeutschland gehen die ehemaligen Flakhelfer und HJ-Pimpfe relativ problemlos in die neuen Organisationsformen des sozialistischen Staates über – Göschel spricht in seiner Untersuchung von einer entstehenden "Flakhelfer/FDJ-Generation". Da in den fünfziger Jahren noch die Übersiedelung nach Westdeutschland möglich war, reduziert sich diese Altersgruppe in der DDR zum Teil in der Tat auf ihren "proletarischen Teil" – aber nicht nur. Vor allem das Bürgertum und die wissenschaftliche Intelligenz verlassen das Land bis 1961 in hoher Zahl in Richtung Westen.

Dennoch ist die 30er-Jahre-Generation in der DDR weitgehend und in ihrem typischen Erscheinungsbild unpolitisch. Während in der Bundesrepublik die Kluft zwischen alten und neuen Eliten geschlossen wird, indem die Nachwachsenden in den fünfziger Jahren freiwillig eine staatstragende Rolle übernehmen, werden die Gleichaltrigen in der DDR lediglich durch die Sozialleistungen und schnelle Aufstiegschancen an das hiesige System gebunden.

Die nachwachsende Generation ist tief von der Nachkriegszeit und den entstandenen beiden deutschen Teilstaaten geprägt. Ein blinder Fortschrittsoptimismus proklamiert der neuen DDR-Jugend den baldigen Kommunismus durch die totale Verwissenschaftlichung der Gesellschaft. Im Westen steht vor allem die Reflexion der jüngeren NS-Vergangenheit im Zentrum des Denkens. Sie führt schließlich zur bekannten 68er-Revolte, die einen Bruch mit der Moral der Vätergeneration provoziert und letztlich zu einer völligen Amerikanisierung der Verhältnisse in der Bundesrepublik führt.

Ein "68" erfolgt in der DDR nicht in vergleichbarer Form. Das liegt zunächst an der generellen Unfreiheit in der SED-Diktatur, die derartige Proteste im Keim erstickt, zum anderen aber auch daran, daß die DDR-Führungselite den Revolutionsbegriff besetzt hält und vereinzelte Revoluzzer so lediglich als Reformer oder Anarchisten gelten läßt. In den sechziger Jahren beginnt die Abstumpfung und Resignation innerhalb der DDR-Gesellschaft, zumal seit dem Bau der Berliner Mauer 1961 die Möglichkeit einer ordentlichen Ausreise nicht mehr besteht. Statt Demonstrationen auf der Straße und Hochschulreform verbinden die Intellektuellen in der DDR mit dem Jahr 1968 vor allem den Einmarsch russischer Panzer in die Tschechoslowakei. Dennoch hat gerade diese Generation nach 1990 maßgeblich das "Ostalgie"-Phänomen erzeugt und am nachhaltigsten dem untergegangenen Staat nachgetrauert. Ihre Vertreter sind zu alt, um sich beruflich vollständig den neuen technischen Anforderungen anzupassen, und sie sind zu jung, um in Rente zu gehen. Somit ist bei ihnen die Frustation über die Einheit am größten. Die 50er-Jahre-Generation kann nicht mehr den Wissenschafts- und Fortschrittsenthusiasmus ihrer Vorgänger teilen. Während sich dies in den siebziger Jahren in der DDR als beginnende Kritik und Konfrontation mit der Staatsmacht und ihrem ideologischen Verständnis äußert, bricht sich unter den Altersgenossen im Westen Deutschlands ein Körper- und Ich-Kult Bahn. Nach dem politischen Scheitern der 68er stehen eigene Erfahrungen und die Suche nach individuellen Lebensformen im Vordergrund.

Zu einem Fixpunkt wird in der DDR die Ausbürgerung des unbequemen Liedermachers Wolf Biermann 1976. Doch die Proteste und das neu erwachende politische Bewußtsein in den siebziger Jahren provozieren nur eine stärkere Welle der Repression und der Bespitzelung durch das Regime. Andersdenkende werden in den Westen abgeschoben, wo sie oft nicht heimisch werden, oder bevölkern die zahlreichen politischen Gefängnisse. Die Mehrheit der Protagonisten aus der 50er-Jahre-Generation zieht sich in die vielbeschworenen Nischen zurück. Als wirkungsvollste Oppositionsform erweist sich bald der Widerstand innerhalb der evangelischen Gemeinden. Unter dem schützenden Dach der Kirche sammeln sich zunehmend Gegner der Diktatur von unterschiedlichster Couleur. Daneben bilden sich oppositionelle Foren in der Ost-Berliner Bohéme- und Künstlerszene, die sich überwiegend utopischen sozialistischen Gemeinschaftsformen verpflichtet fühlen. Gerade weil die Opposition in den siebziger Jahren nach einem "Dritten Weg" forscht und somit auch den Westen ablehnt, kommt es indirekt zu einer starken Identifizierung mit der DDR, die immerhin als – wenn auch gescheiterter – sozialistischer Modellversuch akzeptiert wird.

Auf den ersten Blick erscheint die 60er-Jahre-Generation der DDR ihren westdeutschen Altersgenossen am ähnlichsten zu sein. Zu Recht weist Göschel jedoch darauf hin, daß die Parallelen zwischen den Generationen auch zuvor relativ groß waren. Dennoch kultiviert die DDR-Jugend in den späten siebziger und achtziger Jahren ungehemmt die Erzeugnisse der westlichen Warenwelt. Die Diskrepanz zwischen Propaganda in der Schule und realsozialistischem Alltag nimmt sie in der Regel nur noch ironisch wahr; Hoffnungen und Sehnsüchte richten sich nach Westen. Hier ist der DDR mehrheitlich eine unpolitische Generation herangewachsen, die wie in der Bundesrepublik ihre Leitbilder vornehmlich aus der Punk- und Popkultur bezieht. Auf der anderen Seite übernimmt sie von ihren Vorgängern das Nischendasein und entwickelt bis zum Ende des Staates eine erstaunliche, allerdings auch nur pragmatische Anpassung an das System der DDR.

Bei allen grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen den Generationen sind die Unterschiede im vereinten Deutschland bis zum heutigen Tag nicht zu übersehen. Der Bruch geht hauptsächlich auf die ausgebliebene 68er-Revolte in der DDR zurück. Während sich die Westdeutschen seither in ihren politischen und moralischen Auffassungen wandelten und einer Veröffentlichung und Amerikanisierung der Gesellschaft Vorschub leisteten, blieb die DDR eher der konventionellen Tradition verhaftet. Aus der von Göschel diagnostizierten "Mentalität der Innerlichkeit" resultiert letztlich das Gefühl der kulturellen Überlegenheit gegenüber den als oberflächlich verstandenen westdeutschen Altersgenossen. In eigenwilliger Interpretation von Brechts Kampflied "Vorwärts und nicht vergessen" zieht sich ein großer Teil der DDR-Generationen in seine alten Nischen zurück und kultiviert die abgelegte Vergangenheit.

Mit der Ablehnung der westlichen Wertewelt geht fast automatisch auch die fehlende Identifizierung mit der Bundesrepublik bei den Mitteldeutschen einher, da es 1990 versäumt worden war, beide Lebenswelten zu einem neuen Ganzen zusammenzuführen. Mit dieser Erblast muß sich auch noch die "Berliner Republik" auseinandersetzen. Aber Studien wie die von Albrecht Göschel fördern wesentlich das gegenseitige Verstehen und somit das allmähliche Annähern.