Gesellschaft:
"Vorwärts und nicht vergessen"
Bei allen Unterschieden prägten viele Parallelen die mittel- und westdeutschen
Jugendgenerationen
Von GEORG PREUSSAls mit dem Fall der Berliner Mauer zugleich auch der Staat der DDR in
den Staub der Geschichte sank, wurde offenkundig, in welch einem geringen Maße sich die
Bevölkerung in all den Jahren mit dem SED-Regime identifiziert haben mußte. Und dies,
obwohl die DDR seit dem ersten Tag ihres Bestehens höchsten Wert auf Agitation und
Propaganda gelegt hatte. In der Tat konnte sie bis zu ihrem Ende einen Zustand der
relativen Ruhe und Zufriedenheit registrieren, der allerdings nie mehr war als bloßes
Arrangement innerhalb der Mechanismen einer Diktatur. Von Anfang an haftete der Staats-
und Parteiführung der Geruch an, lediglich ausführendes Organ der sowjetischen
Besatzungsmacht zu sein. Daraus resultierte letztlich der tiefe Verdacht und das
permanente Mißtrauen, mit dem die SED dem in ihrem Machtbereich verbliebenen Volk
begegnete.
Eine neue Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik in Berlin hat sich nun mit dem
jeweiligen Anpassungsgrad der unterschiedlichen Generationen an das DDR-Regime befaßt
(Albrecht Göschel: Kontrast und Parallele kulturelle und politische
Identitätsbildung ostdeutscher Generationen/Stuttgart 1999). Göschel hat auf der Basis
biographischer Tiefenforschung die Entwicklungen in der DDR geborener bzw. aufgewachsener
Generationen bis zur Wiedervereinigung 1990 verfolgt und jeweils den westdeutschen
Jahrgängen gegenübergestellt.
Die 30er-Jahre-Generation teilt mit ihren Altersgenossen in der Bundesrepublik als
zentrales Erlebnis die Kriegserfahrung. In Mitteldeutschland gehen die ehemaligen
Flakhelfer und HJ-Pimpfe relativ problemlos in die neuen Organisationsformen des
sozialistischen Staates über Göschel spricht in seiner Untersuchung von einer
entstehenden "Flakhelfer/FDJ-Generation". Da in den fünfziger Jahren noch die
Übersiedelung nach Westdeutschland möglich war, reduziert sich diese Altersgruppe in der
DDR zum Teil in der Tat auf ihren "proletarischen Teil" aber nicht nur.
Vor allem das Bürgertum und die wissenschaftliche Intelligenz verlassen das Land bis 1961
in hoher Zahl in Richtung Westen.
Dennoch ist die 30er-Jahre-Generation in der DDR weitgehend und in ihrem typischen
Erscheinungsbild unpolitisch. Während in der Bundesrepublik die Kluft zwischen alten und
neuen Eliten geschlossen wird, indem die Nachwachsenden in den fünfziger Jahren
freiwillig eine staatstragende Rolle übernehmen, werden die Gleichaltrigen in der DDR
lediglich durch die Sozialleistungen und schnelle Aufstiegschancen an das hiesige System
gebunden.
Die nachwachsende Generation ist tief von der Nachkriegszeit und den entstandenen
beiden deutschen Teilstaaten geprägt. Ein blinder Fortschrittsoptimismus proklamiert der
neuen DDR-Jugend den baldigen Kommunismus durch die totale Verwissenschaftlichung der
Gesellschaft. Im Westen steht vor allem die Reflexion der jüngeren NS-Vergangenheit im
Zentrum des Denkens. Sie führt schließlich zur bekannten 68er-Revolte, die einen Bruch
mit der Moral der Vätergeneration provoziert und letztlich zu einer völligen
Amerikanisierung der Verhältnisse in der Bundesrepublik führt.
Ein "68" erfolgt in der DDR nicht in vergleichbarer Form. Das liegt zunächst
an der generellen Unfreiheit in der SED-Diktatur, die derartige Proteste im Keim erstickt,
zum anderen aber auch daran, daß die DDR-Führungselite den Revolutionsbegriff besetzt
hält und vereinzelte Revoluzzer so lediglich als Reformer oder Anarchisten gelten läßt.
In den sechziger Jahren beginnt die Abstumpfung und Resignation innerhalb der
DDR-Gesellschaft, zumal seit dem Bau der Berliner Mauer 1961 die Möglichkeit einer
ordentlichen Ausreise nicht mehr besteht. Statt Demonstrationen auf der Straße und
Hochschulreform verbinden die Intellektuellen in der DDR mit dem Jahr 1968 vor allem den
Einmarsch russischer Panzer in die Tschechoslowakei. Dennoch hat gerade diese Generation
nach 1990 maßgeblich das "Ostalgie"-Phänomen erzeugt und am nachhaltigsten dem
untergegangenen Staat nachgetrauert. Ihre Vertreter sind zu alt, um sich beruflich
vollständig den neuen technischen Anforderungen anzupassen, und sie sind zu jung, um in
Rente zu gehen. Somit ist bei ihnen die Frustation über die Einheit am größten.
Die 50er-Jahre-Generation kann nicht mehr den Wissenschafts- und
Fortschrittsenthusiasmus ihrer Vorgänger teilen. Während sich dies in den siebziger
Jahren in der DDR als beginnende Kritik und Konfrontation mit der Staatsmacht und ihrem
ideologischen Verständnis äußert, bricht sich unter den Altersgenossen im Westen
Deutschlands ein Körper- und Ich-Kult Bahn. Nach dem politischen Scheitern der 68er
stehen eigene Erfahrungen und die Suche nach individuellen Lebensformen im Vordergrund.
Zu einem Fixpunkt wird in der DDR die Ausbürgerung des unbequemen Liedermachers Wolf
Biermann 1976. Doch die Proteste und das neu erwachende politische Bewußtsein in den
siebziger Jahren provozieren nur eine stärkere Welle der Repression und der Bespitzelung
durch das Regime. Andersdenkende werden in den Westen abgeschoben, wo sie oft nicht
heimisch werden, oder bevölkern die zahlreichen politischen Gefängnisse. Die Mehrheit
der Protagonisten aus der 50er-Jahre-Generation zieht sich in die vielbeschworenen Nischen
zurück. Als wirkungsvollste Oppositionsform erweist sich bald der Widerstand innerhalb
der evangelischen Gemeinden. Unter dem schützenden Dach der Kirche sammeln sich zunehmend
Gegner der Diktatur von unterschiedlichster Couleur. Daneben bilden sich oppositionelle
Foren in der Ost-Berliner Bohéme- und Künstlerszene, die sich überwiegend utopischen
sozialistischen Gemeinschaftsformen verpflichtet fühlen. Gerade weil die Opposition in
den siebziger Jahren nach einem "Dritten Weg" forscht und somit auch den Westen
ablehnt, kommt es indirekt zu einer starken Identifizierung mit der DDR, die immerhin als
wenn auch gescheiterter sozialistischer Modellversuch akzeptiert wird.
Auf den ersten Blick erscheint die 60er-Jahre-Generation der DDR ihren westdeutschen
Altersgenossen am ähnlichsten zu sein. Zu Recht weist Göschel jedoch darauf hin, daß
die Parallelen zwischen den Generationen auch zuvor relativ groß waren. Dennoch
kultiviert die DDR-Jugend in den späten siebziger und achtziger Jahren ungehemmt die
Erzeugnisse der westlichen Warenwelt. Die Diskrepanz zwischen Propaganda in der Schule und
realsozialistischem Alltag nimmt sie in der Regel nur noch ironisch wahr; Hoffnungen und
Sehnsüchte richten sich nach Westen. Hier ist der DDR mehrheitlich eine unpolitische
Generation herangewachsen, die wie in der Bundesrepublik ihre Leitbilder vornehmlich aus
der Punk- und Popkultur bezieht. Auf der anderen Seite übernimmt sie von ihren
Vorgängern das Nischendasein und entwickelt bis zum Ende des Staates eine erstaunliche,
allerdings auch nur pragmatische Anpassung an das System der DDR.
Bei allen grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen den Generationen sind die Unterschiede
im vereinten Deutschland bis zum heutigen Tag nicht zu übersehen. Der Bruch geht
hauptsächlich auf die ausgebliebene 68er-Revolte in der DDR zurück. Während sich die
Westdeutschen seither in ihren politischen und moralischen Auffassungen wandelten und
einer Veröffentlichung und Amerikanisierung der Gesellschaft Vorschub leisteten, blieb
die DDR eher der konventionellen Tradition verhaftet. Aus der von Göschel
diagnostizierten "Mentalität der Innerlichkeit" resultiert letztlich das
Gefühl der kulturellen Überlegenheit gegenüber den als oberflächlich verstandenen
westdeutschen Altersgenossen. In eigenwilliger Interpretation von Brechts Kampflied
"Vorwärts und nicht vergessen" zieht sich ein großer Teil der DDR-Generationen
in seine alten Nischen zurück und kultiviert die abgelegte Vergangenheit.
Mit der Ablehnung der westlichen Wertewelt geht fast automatisch auch die fehlende
Identifizierung mit der Bundesrepublik bei den Mitteldeutschen einher, da es 1990
versäumt worden war, beide Lebenswelten zu einem neuen Ganzen zusammenzuführen. Mit
dieser Erblast muß sich auch noch die "Berliner Republik" auseinandersetzen.
Aber Studien wie die von Albrecht Göschel fördern wesentlich das gegenseitige Verstehen
und somit das allmähliche Annähern.