Tilsit in Sibirien?
Wenn der Enkel mit der Großmutter in Gedanken auf Reisen gehtTilsit", überlegt
Frank und schiebt sich dabei noch einen zusammengerollten Kartoffelflinsen in den Mund,
"liegt das nicht in Sibirien?" Kann er vielleicht auch nicht wissen, denke ich
und sage, daß Tilsit heute Sowetsk heißt, weil auch Städte im Laufe von Jahrzehnten
ihren Namen ändern können. Aber für ihn liegt auch Sowetsk in Sibirien.
Ich muß auf die Flinsen in der Pfanne aufpassen, sie rechtzeitig umdrehen, damit sie
diesen knusprigen, braunen, filigranartigen Rand bekommen, wie Frank ihn liebt an den
Kartoffelflinsen seiner Großmutter. Ich frage mich, ob der Teig auch ausreichen wird. Er
schiebt jetzt den achten nach, und weil er heute einen guten Tag hat und etwas auf mich
eingehen will, meint er noch: "Ach nein, in Sibirien war Opa ja in
Gefangenschaft." Ich will etwas sagen, aber da wehrt er schon ab: "Omaaa, nicht
schon wieder diese Geschichte mit der ausgehängten Tür!" Die ausgehängte
Tür diente seinem Großvater anderthalb Jahre im Lager als Bett, bis die Russen merkten,
daß er Maurer ist und er diese Öfen für sie bauen mußte, auf denen sie ihre Zeit
verbrachten, und danach war es ihm die letzten viereinhalb Jahre etwas besser gegangen.
Dann aber brühe ich Kaffee auf meine altertümliche Methode: das Kaffeemehl mit
kochendem Wasser überbrühen und warten, bis sich der Grund gesetzt hat. Bis das der Fall
ist, werde ich ihm zeigen, wo Tilsit liegt. "Geh", sage ich zu ihm, "und
hole die Karte vom nördlichen Teil Ostpreußens aus dem Schrank. Sie liegt in der
obersten Schublade."
Es stellt sich heraus, daß Frank, fünfzehn Jahre alt, nicht einmal weiß, daß
Ostpreußen geteilt worden ist, daß es außer dem nördlichen auch einen südlichen Teil
gibt, der heute zu Polen gehört. "Wieso eigentlich?" fragt er. Ist es möglich,
daß diese Generation keinen Geschichtsunterricht mehr hat, denke ich, und wie ist es mit
Erdkunde?
Ich schenke den Kaffee ein und beuge mich über die ausgebreitete Karte. Frank läßt
sich herab, daß ich ihm Tilsit und Übermemel zeige, das auf der anderen Seite der
Luisenbrücke liegt und wo ich früher eingekauft habe, wo die langen Stände waren, auf
denen die Händler ihre Wagen anboten, und wo man doch auch aufpassen mußte, statt der
süßen geschmeckten Butter zu Hause kein ranziges Stück aus dem Rhabarberblatt zu
wickeln. Und es galt aufzupassen, daß der Verkäufer seine Hände aus dem Maß nahm, mit
denen er Berge schwellen ließ an Obst und Beeren. "Madamche" wurde man genannt,
und niemand nahm es übel, wenn man sagte: "Judche, nimm erst de Hände ausse
Kann", bevor man kaufte.
Ich merke schon, das ist auch eine alte Geschichte für Frank, der sich jetzt den
letzten Flinsen mit Zucker bestreut, ihn aufdreht und zum Munde führt, ganz und gar
genüßlich wie seine Mutter, die auch das Essen so liebt.
Ich fahre mit dem Finger von Tilsit/Sowetsk die Memel entlang und halte in Kuckerneese,
wo wir diese herrlichen unvergeßlichen Sommertage verbrachten mit den Kindern, die damals
noch viel jünger waren, als Frank es heute ist. Aber das hat er wohl von seiner Mutter
gehört, denn sein Interesse läßt merklich nach und gilt jetzt seiner Frisur, die er vor
dem Spiegel im Flur richtet, eine Art von geölten Locken, fast so glänzend wie die
verdrückten Flinsen. Seine Hose hängt ihm über die dicksohligen Schuhe bis auf die Erde
und der Hosenboden bis in die Kniekehlen. Ob man die Hose an der Kette hochziehen soll,
die hinten runterhängt, frage ich erst gar nicht. Frank, denke ich, lieber Frank
Plötzlich begegnen sich unsere Augen im Spiegel. Ich denke, daß es gut ist, daß
Franks Generation ohne diese fürchterlichen Erinnerungen, die mich immer noch quälen, in
das neue Jahrhundert gehen kann und daß für ihn Tilsit in Sibirien liegt, schließlich
ist er Europäer! Ich möchte ihm gern über das Haar streichen, halte mich aber zurück
und nehme seinen Kuß in Empfang, den er mir auf die Wange drückt. Ich öffne ihm die
Tür, und zum Abschied sagt er gönnerhaft: "Kannst wieder mal machen."
Ich gehe zurück in die Küche, klappe die Karte zusammen, lege sie weg und beginne
abzuwaschen. Wieder sind keine Flinsen übriggeblieben, denke ich. Dabei könnte ich doch
morgen welche für mich backen. Werde ich aber nicht, denn mir würde vielleicht dieses
fehlen, daß es nicht reicht. Christel Bethke