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22.01.00 Die Reise im plombierten Waggon

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Januar 2000


Die Reise im plombierten Waggon
Die Finanzierung politischer Umstürze während des Ersten Weltkrieges (Teil III) / Von Hans B. v. Sothen

Die Russische Oktoberrevo-lution im Jahre 1917 blieb in Deutschland zunächst ohne größere Wirkung. Rußland – das war für den deutschen Arbeiter weit weg. Und Rußland, das galt dem durchschnittlichen Sozialdemokraten als ein zutiefst rückschrittliches Land, dem sich auch der einfache deutsche Arbeiter überlegen fühlte. Doch das wenige, was seit November 1917 aus dem neuen Rußland herausdrang, klang geheimnisvoll und faszinierend. Erstmals hatte es eine sozialistische Partei, die sich die Revolution – und damit den gewaltsamen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse – auf die Fahnen geschrieben hatte, geschafft, in einem Land die Macht zu übernehmen.

Zwar stand man mit diesem Land noch im Krieg. Doch hatte nicht die kaiserliche deutsche Regierung diesem Lenin, dem Anführer jener Revolution, in einem verschlossenen Wagen die Durchreise aus dem Schweizer Exil durch das Deutsche Reich nach Schweden und Petersburg erlaubt? (Der Revolutionär Radek wird später vom "plombierten Waggon" erzählen). Die Gründe für Deutschland schienen klar auf der Hand zu liegen. War Lenins Partei doch die einzige russische Gruppierung, die klipp und klar gesagt hatte, daß sie, wenn sie an die Macht käme, sofort in Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten eintreten würde. Warum es also nicht einmal mit Lenin versuchen? Selbst wenn er es nicht schaffen sollte, so würde er doch jedenfalls schon allein durch sein einfaches Auftauchen die innere Unruhe in Rußland vergrößern.

Eine merkwürdige Koalition zur Befreiung Lenins hatte sich da gefunden. Der deutsche Botschafter in Kopenhagen, Graf Brockdorff-Rantzau, eine aristokratische Erscheinung par excellence, hatte sich zusammengetan mit einem etwas mysteriösen russischen Juden aus Odessa, Alexander Helphand, der sich selbst "Parvus" nannte. Parvus war ein langjähriger Freund des russischen Revolutionärs Trotzki und galt als Erfinder des Begriffs "permanente Revolution". Er haßte das russische Zarenregime, hatte aber andererseits eine verborgene Schwäche für alles Deutsche. Während des Krieges gab er eine Zeitschrift namens "Die Glocke" in Kopenhagen heraus, die offen die Sozialisten aller Länder für die gerechte Sache Deutschlands in diesem Krieg einnehmen sollte.

Parvus war schon vorher auf etwas undurchsichtige Weise zu märchenhaftem Reichtum gelangt. Im Auftrag der Reichsregierung sollte er nun seine Fähigkeiten dazu verwenden, während des Ersten Weltkriegs in Kopenhagen als Geschäftsmann tätig zu werden und vom neutralen Dänemark aus finanzielle Transaktionen vorzunehmen und solche der Alliierten in Skandinavien zu beobachten.

Wenige Wochen seit seiner Ankunft im Frühling 1915 hatten genügt, da war er schon stolzer Besitzer einer einträglichen Werbefirma in Kopenhagen, die die meisten Litfaßsäulen in der dänischen Hauptstadt kontrollierte. Im Spätsommer des Jahres 1915 gründete er die "Handels- og Eksportkompagniet A/S", ein Import- und Exportgeschäft, das als Tarnorganisation für die Revolutionierunmg Rußlands gedacht war. Die Verbindungen dieser Firma reichten schon bald von Schweden, England und den Niederlanden bis nach Rußland und den USA. Das Geschäft war auf den Rußlandhandel spezialisiert, in dem es sogar zeitweilig eine gewisse Monopolstellung erreichte.

Als kaufmännischen Direktor seiner Firma hatte er den Stockholmer Bankier und gebürtigen Polen Jakob Fürstenberg, bekannter unter seinem bolschewistischen Parteinamen "Hanecki", gewonnen. Nicht ganz zufällig war dieser Hanecki wiederum ein enger Vertrauter Lenins, der sich noch immer als Exilant in Zürich aufhielt. Hanecki hatte nach seinen Studienjahren in Berlin, Heidelberg und Zürich sein ganzes Leben der bolschewistischen Partei gewidmet. Er hatte 1912 bis 1914 zusammen mit Lenin in der Nähe von Krakau gelebt, danach taucht er 1914 in Zürich auf, um 1915 im Geschäft von Parvus in Kopenhagen einzusteigen. Seine enge persönliche Bindung zu Lenin machte ihn für Parvus unentbehrlich.

Im April 1916 teilte Parvus seinen Geschäftsanteil an der Kopenhagener Firma mit einem Berliner Kaufmann namens Georg Sklarz, der seine ausgezeichneten Beziehungen zum deutschen Generalstab mit in das Geschäft einbrachte. Er stand wenigstens seit Beginn der Mobilisierung 1914 im Dienst des Geheimdienstes des Deutschen Admiralstabes Alfred v. Tirpitz’. Auf Anweisung dieser Dienststellen trat er 1916 in das Geschäft von Parvus ein. Zwei seiner Brüder, Waldemar und Heinrich Sklarz, arbeiteten ebenfalls für deutsche Interessen in Skandinavien: Waldemar als Parvus’ Sekretär in Stockholm und Heinrich, der Ende 1915 im Auftag des deutschen Generalstabs nach Kopenhagen entsandt worden war, beobachtete im Auftrag der Wirtschaftsspionage den Einfluß der Entente auf das dänische Wirtschaftsleben.

In eigenartigem Gegensatz zu seinem geschäftlichen Engagement steht Parvus’ Tätigkeit als Herausgeber der Zeitschrift "Glocke". Diese setzte sich für Deutschland und einen revolutionären Umsturz in Rußland ein. Doch der Zusammenhang zu Deutschland war zu offensichtlich, als daß dieses Organ dauerhaft eine übergreifende Wirkung hätte haben können. Immerhin fand sie international Beachtung. Rosa Luxemburg etwa fand einige der Thesen diskussionswürdig. Lenin in Zürich allerdings nannte im November 1915 die Zeitung des "Herrn Parvus" "rundum eine Kloake des deutschen Chauvinismus". Natürlich waren ihm die Verbindungen Parvus’ zu deutschen Regierungsstellen nicht verborgen geblieben. Er selbst hatte ja davon profitiert.

Doch war Parvus durchaus nicht lediglich ein Befehlsempfänger. Durch seine häufigeren Besprechungen mit dem deutschen Botschafter in Kopenhagen, Graf Brockdorff-Rantzau, flossen seine Überlegungen auch in die deutsche Regierungspolitik ein. Ein wichtiges Gespräch der beiden über Rußland fand am 7. September 1915 statt. Parvus versicherte Rantzau, daß die Gärung in Rußland, "und zwar auch in der Armee", so weit fortgeschritten sei, "daß sie zur Katastrophe führen muß". Sollte Deutschland in der Lage sein, seine militärische Position an der russischen Front zu halten, so werde seiner Meinung nach die Entwicklung "von selbst zur offenen Revolution treiben". In einem freilich irrte Parvus. Er setzte den Termin der Revolution Ende Januar 1916 an. Sie sollte erst ein gutes Jahr später stattfinden. In Berlin hatte man verstanden.

So sollte nun zunächst Parvus als Mittelsmann der deutschen Regierung diesen merkwürdigen Lenin in Zürich finanziell unterstützen – mit deutschem Geld selbstredend. Und dieser sollte damit gefälligst in Rußland eine Revolution anzetteln und, wie er versprochen hatte, umgehend mit den Deutschen einen Sonderfrieden aushandeln. So ungefähr hatte man sich das in Berlin vorgestellt. An die Konsequenzen, die eine Revolution Lenins über kurz oder lang auch in Deutschland haben könnte, hatte man nicht gedacht.

Lenin wiederum roch den Braten. Zwar brauchte er wie immer Geld. Aber keins, das ihn so offen diskreditiert hätte. So schaltete er seinen alten Freund Hanecki in Stockholm dazwischen. Namhafte Geldbeträge von der deutschen Reichsregierung gingen nun vom Berliner Auswärtigen Amt an Brockdorff-Rantzau; der holsteinische Aristokrat leitete es weiter an Parvus in Kopenhagen. Von dort an Hanecki in Stockholm – und von diesem schließlich an Lenin. So konnte Lenin jederzeit nach außen den Schein wahren, er habe nichts von der Herkunft des Geldes gewußt.

Nur wenige Leute im Ausland kannten diesen Lenin überhaupt oder wußten genau, was er wollte. Auf internationalen sozialistischen Treffen spielte die Richtung Lenins kaum eine Rolle. Zu übermächtig waren vor Ausbruch des Weltkrieges Persönlichkeiten wie August Bebel oder Jean Jaurès gewesen. Vielleicht hielt man Lenin für radikal und auch etwas absonderlich, für bedeutend hielt man ihn nicht.

Das sollte sich schlagartig ändern, als es den russischen Bolschewisten unter Lenin schließlich im zweiten Anlauf am 8. November 1917 westlicher Zeitrechnung gelang, die Macht in Rußland durch einen Putsch an sich zu reißen. Man hatte über diesen Lenin und seine etwas krausen Ideen gelächelt. Jetzt stand er an der Spitze der ersten erfolgreichen kommunistischen Revolution. Jetzt lächelte niemand mehr.

Deutschland schloß tatsächlich einen Separatfrieden mit Rußland ab. Das hätte vielleicht im Ersten Weltkrieg die entscheidende militärische und politische Wende zugunsten Deutschlands und der Mittelmächte herbeiführen können, wenn nicht einige Monate zuvor, am 6. April 1917, die Vereinigten Staaten von Amerika auf seiten der Alliierten in den Krieg gegen die Mittelmächte eingetreten wären.

Trotzdem: der Separatfrieden mit der Sowjetunion brachte Deutschland einen ungeheuren strategischen Vorteil. Der Zweifrontenkrieg war beendet. Aber Lenin war noch nicht fertig. Er wollte die Revolution nicht nur in Rußland, sondern er wollte die Weltrevolution. Deutschland galt ihm als das fortgeschrittenste Land. Brach dort die Revolution aus, dann mußte die Umwälzung in allen anderen Ländern unweigerlich folgen. Und daß sich die Welt in einem Krieg befand – das begriff Lenin –, konnte einer solchen Entwicklung nur förderlich sein.

Es war Lenin, der bereits kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in seiner Schrift "Sozialismus und Krieg" offen eine Politik des Defätismus propagierte: "Die Sozialisten müssen den Massen klar machen, daß es für sie kein Heil ohne die revolutionäre Niederwerfung der ,eigenen‘ Regierungen gibt und daß ihre Kriegsverlegenheiten eben zu diesem Zwecke ausgenützt werden müssen." Im Klartext: Revolutionäre Sozialisten müssen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die ein langer Krieg mit sich bringt, stets dazu ausnützen, im jeweils eigenen Land eine Revolution gegen die eigene Regierung anzuzetteln.

Die deutsche Sozialdemokratie hatte mit einer solchen Denkweise so ihre Schwierigkeiten. Schließlich waren sie nicht wie die russischen Sozialisten in Untergrund und Illegalität verbannt, sondern saßen seit Jahrzehnten als inzwischen recht reputierliche Partei im Reichstag. Ja, man war vor dem Krieg sogar stärkste Parlamentsfraktion geworden. Man war vom Organisationsgrad her die stärkste sozialistische Partei der Welt. Das gab innere Kraft und Selbstvertrauen.

Die russischen Sozialisten dagegen waren schwach, verfolgt und dazu auch noch tief gespalten. Lenins Defätismus sprach dort vielen aus der Seele. Das war in Deutschland anders. Die SPD hatte am 4. August 1914 im Reichstag fast einstimmig für die Kriegskredite gestimmt. Pazifisten oder solche Leute, die ihre Waffen lieber gegen die Machtelite im eigenen Land gerichtet hätten, wie Karl Marx dies wollte, gab es in Deutschland zu Beginn des Krieges kaum. Das war auch in Frankreich oder England nicht anders. Die Sozialisten, die noch wenige Wochen vor dem Ausbruch des Weltkrieges flammende Friedensappelle an die ganze Welt gerichtet hatten, reihten sich nun in ihre nationalen Armeen ein, um, wie sie alle meinten, der gerechten Sache ihres jeweils eigenen Volkes zu dienen.

Lenin hatte für diesen Gesinnungsschwenk der europäischen Sozialisten nur tiefe Verachtung übrig. Er wollte keinen nationalen Krieg, er wollte aber auch keinen Pazifismus – er wollte Klassenkampf und Revolution. Hatte nicht bereits Friedrich Engels gesagt, daß die Revolution nicht mit friedlichen Mitteln erreicht werden könne, sondern die gewaltsamste Sache der Welt sei? Lenin machte ernst damit.

In den ersten Wochen nach ihrer Machtergreifung lagen die Bolschewisten noch wirtschaftlich und militärisch am Boden. Doch die Siegesgewißheit der Gruppe um Lenin, Trotzki und Sinowjew war so groß, daß sie damit rechnete, daß an jedem Tag in den Ländern West- und Mitteleuropas und in den USA die Weltrevolution ausbräche. Und in der Tat: War nicht der Berliner Generalstreik in den Tagen vom Januar zum Februar 1918 ein sicheres Indiz dafür, daß es mit den "alten" Staaten rapide bergab ging? (Fortsetzung folgt)