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22.01.00 Der letzte Vorhang

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Januar 2000


Der letzte Vorhang
Von ALBERT LOESNAU

Allmählich wurde der langanhaltende Beifall schwächer. Die Kollegen traten in die Kulisse zurück und ließen Melanie Bender allein auf der Bühne. Die alte Schauspielerin verneigte sich. Noch dreimal ging der Vorhang auf, bevor er sich endgültig schloß.

Das Licht der Scheinwerfer erlosch. Einen Moment verharrte Melanie noch in der Dekoration. Ihre letzte Vorstellung war zu Ende. Für sie würde sich der Vorhang nicht mehr heben. Mit dem heutigen Abend befand sie sich im Ruhestand.

Die Kollegen umringten Melanie Bender. Sie hielt einen riesigen Blumenstrauß im Arm und wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Noch einmal stand sie im Mittelpunkt. Zum letzten Mal hatte der Applaus ihr gegolten. Melanie dachte daran, daß nun ein neuer, keinesfalls erwünschter Lebensabschnitt vor ihr lag. Bisher hatte sie den Gedanken an ihre Pensionierung stets beiseite geschoben. Jetzt war der Zeitpunkt unausweichlich herangerückt.

Der Abend wurde mit der Abschiedsfeier im fröhlichen Kreis der Kollegen fortgesetzt. Um so bedrückender empfand Melanie die Stille, die am Tag darauf folgte. Immer wieder flüchtete sie sich in die Erinnerung an ihr wechselvolles Leben. Erfolg und Rückschläge lagen hinter ihr.

Sie hatte nicht die große Karriere erreicht, von der sie in der Jugend träumte. Aber sie war beim Publikum beliebt gewesen. Das hatte ihr der zahlreiche Besuch zur letzten Vorstellung bestätigt. Auch die Kollegen hatten sie geschätzt. Doch Melanie wußte genau, wie schnell jemand vergessen war, der nicht mehr zu ihnen gehörte.

Oft las sie die Werke der Dichter, deren Frauengestalten sie auf der Bühne verkörpert hatte. Verse und Gedichte sprach sie mit lauter Stimme. So kehrte sie für den Augenblick noch einmal in die Welt zurück, die ihr nun verschlossen war. Denn es blieb die Einsamkeit, die Melanie umgab und aus der sie keinen Ausweg zu finden schien.

Sooft das Wetter erlaubte, verließ sie die Wohnung und ging spazieren. Ziellos wanderte sie durch die Stadt oder unternahm einen Ausflug in die nähere Umgebung. Auf einem dieser Wege kam sie nachmittags in eine bisher unbekannte Gegend. Hohe, dichtbelaubte Bäume säumten eine verkehrsreiche Chaussee. Als Melanie Bender weiterging, bemerkte sie eine alte Dame, die sichtlich zögernd am Straßenrand stand. Kurz entschlossen trat sie auf sie zu. "Kann ich Ihnen behilflich sein?"

"Oh, das ist wirklich sehr nett von Ihnen", erwiderte die andere. "Ich sehe leider nicht mehr so gut und traue mich kaum zur anderen Seite hinüber."

Melanie wartete, bis eine Lücke im vorbeirollenden Verkehr entstand. Sie bot der alten Dame den Arm und überquerte mit ihr die Fahrbahn. Sicher auf dem gegenüberliegenden Gehsteig gelandet, setzte sie das Gespräch fort. Die alte Dame bedankte sich herzlich, offensichtlich froh darüber, eine gleichaltrige Partnerin gefunden zu haben.

Melanie erfuhr, daß sie in einem nahe gelegenen Seniorenheim wohnte. Es gefiel ihr anscheinend dort sehr gut. Nur ihre Sehschwäche hielt sie, wie manche anderen auch, von den dort gebotenen Zerstreuungen ab.

"Es stört mich nicht, daß ich auf das Fernsehprogramm meistens verzichten muß", meinte die alte Dame. "Aber ich kann auch kaum etwas lesen, weil meine Augen schnell ermüden. Deshalb bin ich schon damit zufrieden, wenn ich hin und wieder eine Erzählung oder ein Gedicht im Radio höre."

Melanie verabschiedete sich vor dem im Grünen gelegenen Seniorenheim von ihrer Begleiterin. Aber auf dem Rückweg dachte sie noch einmal über das Gespräch nach. Diese zufällige Begegnung war von ganz besonderer Bedeutung für sie gewesen: Es gab Menschen, denen sie helfen konnte!

Als Melanie wieder nach Hause kam, hatte sich der flüchtige Gedanke schon zu einem festen Plan entwickelt. Es war eine selbstgewählte Aufgabe, die ihr Freude machte und der sie sich mit ganzer Hingabe widmete. Von neu erwachter Energie beflügelt, bereitete sie einen Rezitationsabend vor. Sorgfältig wählte sie ein Programm aus, das sich an ein vielschichtiges Publikum wandte. Bei dieser Arbeit verging die Zeit wie im Flug. Tage, die sich bisher zu Unendlichkeiten gedehnt hatten, erschienen nun viel zu kurz.

Dann kam der entscheidende Augenblick. Es erleichterte Melanies Vorhaben, daß Herr Holm, der Leiter des Seniorenheims, ein eifriger Theaterbesucher war. Er hatte sie in verschiedenen Rollen gesehen und war sofort zu einem Gespräch bereit.

Ohne Zögern stimmte er dem Programm für Melanies Vortrag zu. Allein das Beispiel, das die alte Dame damit allen Gleichaltrigen gab, war von großer Bedeutung. Der Heimleiter hatte die Erfahrung gemacht, daß der Ansporn zu einer Tätigkeit das beste Mittel gegen vorzeitige Resignation im letzten Lebensabschnitt war. Deshalb zögerte er nicht und plante den Vortragsabend gleich für den nächsten Sonnabend ein.

Melanie Bender hatte ein Taxi bestellt, mit dem sie zum Seniorenheim fuhr. Herr Holm erwartete sie schon am Vorplatz. Er trug ihre große Tasche, in der sich die Vortragsbücher befanden, zu einem Zimmer neben dem Saal. Es war als Künstlergarderobe eingerichtet.

Dann saß Melanie wieder einmal vor dem Schminkspiegel. Doch sie legte kein Rot auf die Wangen, sondern ordnete nur sorgfältig das Haar. Ihr Herz klopfte. Sie war ein wenig aufgeregt, wie vor einer Premiere. Herr Holm öffnete die Tür und bat um ihren Auftritt. Melanie lächelte ihrem Spiegelbild aufmunternd zu und folgte ihm.

Gedämpftes Klatschen war zu hören, als sie den vollbesetzten Saal betraten. Melanie setzte sich in den bequemen Sessel, der auf dem Podium unter einer Stehlampe stand. Nach einem Moment innerer Sammlung schlug sie dann das Balladenbuch auf.

Während des ersten Vortrags war noch gelegentlich halblautes Räuspern und Husten zu vernehmen. Doch bald zog Melanies ausdrucksvolle Stimme alle Anwesenden unwiderstehlich in ihren Bann. Sie hatte ein vielseitiges Programm ausgewählt. Dramatische Dichtung wechselte mit schlichten Erzählungen und besinnlichen Worten ab. Ein heiteres Gedicht beschloß dann den Vortrag.

Lachen erklang, in das sich lebhafter Beifall mischte. Die frohgestimmten Mienen der Zuhörer verrieten, daß die Darbietung der alten Schauspielerin den erhofften Erfolg gebracht hatte.

Mitten unter dem Applaus betrat Herr Holm das Podium und überreichte Melanie einen Blumenstrauß. Der Dank für ihre künstlerische Leistung und die Bestätigung, daß für jeden der letzte Vorhang erst dann gefallen war, wenn er das Zutrauen zu sich selbst verloren hatte …