28.03.2024

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22.01.00 Von Warnicken nach Brüsterort

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Januar 2000


Von Warnicken nach Brüsterort
Von SENTA HEINE

Über meiner Couch hängt ein Aquarell, das ich sehr liebe und nie austauschen möchte. Es erinnert mich an eine liebe, alte Tante aus Berlin, die es gemalt hat, außerdem ist es eine bleibende Erinnerung an schöne Wanderungen an der Samlandküste. Im Vordergrund erkennt man sofort den unverwechselbaren Zipfelberg bei Großkuhren, im Hintergrund den Wachbudenberg bis hin nach Brüsterort mit dem Leuchtturm, allerdings nur noch schemenhaft.

Wir waren im Sommer viel an der See, und wenn das Wetter nicht so einladend war, daß man am Strand gelegen hätte, machte unser Vater gern mit uns Wanderungen im Samland oder an der Küste. So fuhren wir mit der Samlandbahn nach Warnicken, also bis zur Endstation. Dort ging es erst durch den Warnicker Forst, der mir in der Erinnerung ein bißchen düster vorkam. Dafür hatte der Wald aber, vielleicht wegen des Schattens, ganz unglaublich große blaue Glockenblumen, so wie ich sie sonst nie in der freien Natur gesehen habe. Bald kamen wir an die sogenannte Wolfsschlucht, wo mir als Kind immer die Oper "Der Freischütz" einfiel, weil es da die unheimliche Szene in der Wolfsschlucht gibt. Meine älteren Geschwister spielten die Oper auf dem kleinen Puppentheater, allerdings nicht als Oper …

Diese Schlucht war ein tiefer Einschnitt in die hohe Steilküste, und man konnte darin neben einem kleinen Rinnsal über große Steine – noch aus der Eiszeit – hinuntersteigen zum Strand. Weiter in Richtung Großkuhren ging es oben an der Steilküste, erst noch durch etwas Wald, dann hatte man meist weite Felder auf der linken Seite. An den schmalen Wegen fiel das Ufer rechts steil ab, und manchmal war der Weg auf einmal zu Ende, der Abgrund gähnte! Da hatte die Ostsee bei Sturm einfach etwas Land weggefressen – jedes Jahr ein Stückchen mehr. Die Wanderer mußten einen neuen Trampelpfad anlegen.

Einmal sind wir mit Besuch "aus dem Reich" unten am schmalen Strand lang gegangen und gerieten in ein solches abgestürztes Lehmbett, das bis zum Wasser reichte. Ich blieb in dem Lehm stecken mit einem Schuh – mir unvergessen, weil ich die neuen Schuhe verdorben hatte; alle lachten, als ich mit dem nackten Fuß auch noch in den Lehm treten mußte.

Der Zipfelberg war einfach einmalig – wie ein großer Kegel aus festem, rötlichem Sand, die Spitze schon vom Zahn der Zeit abgetragen. Dann aber kam die sogenannte Himmelsleiter, auf der wir an den Strand hinunter steigen konnten. Es war eine sehr steile, aber sehr solide Holzleiter, auf der ab und an ein Rastplatz seitlich war, damit man beim Ersteigen nicht zu sehr aus der Puste kam. Ein Vers ist mir noch in Erinnerung, der dort angebracht war: "Wer Eierschalen, Frühstückstüten und alles, was er nicht mehr braucht, hier wegwirft, der wird fünf Minuten ins Ostseewasser eingetaucht." Wobei zu sagen wäre, daß das aus Anstand ohnehin kaum jemand tat damals …

Also nun flott die Leiter hinunter- spaziert, und dann ging es am Strand von Großkuhren unten weiter. Es war nur ein kleiner Badeort und nicht so vornehm wie Rauschen oder Cranz. Barfuß im Sand, die Schuhe in der Hand, ging es bis Kleinkuhren und dann wieder bergauf zum Wachbudenberg, der sich 60 Meter hoch erhob, so daß man wieder einen schönen Ausblick von oben hatte. Nach Brüsterort war es wieder noch ein ganzes Stück zu laufen. Dort war dann der so wichtige Leuchtturm, für die Schiffe unbedingt erforderlich, die das Samland umfuhren. Leider weiß ich nicht mehr, ob man den Leuchtturm besteigen konnte, eher wohl nicht.

In einem späteren Jahr, als mein herzkranker Vater nicht mehr mit uns wandern konnte, sind wir mal in Brüsterort auch unten am Strand gewesen und haben dort gebadet. Das war wieder etwas Einmaliges: An dieser "Ecke" im Nordwesten des Samlandes war ja eine Wende von 270 Grad, und das Wasser war da so flach, daß wir lange im Wasser gehen konnten, bis wir ins Tiefe kamen. An der Westküste sahen wir dann ein altes Schiffswrack, total verrostet – für einen Großstädter ein besonderer Anblick, wobei unsere Phantasie sehr weit schweifen konnte!

So eine Wanderung war schon eine Leistung, denn der Heimweg mußte auch noch geschafft werden. Als Kind hätte ich meist lieber am Strand gelegen, aber heute bin ich dankbar, daß wir viel kennenlernten bei diesen Wanderungen. Leider muß ich gestehen, daß es mit meinen Erinnerungen an die Zeit vor immerhin 60 bis 70 Jahren nicht so gut bestellt ist. Wie bei einem Sieb fällt so manches einfach durch, und ich habe nur einzelne Brocken noch genau im Gedächtnis. So weiß ich gar nicht mehr, wo wir mal eingekehrt sind, obwohl mir als Kind das bestimmt sehr, sehr wichtig war, vor allem wenn man zum Kuchen die giftig grüne oder rote Limonade bekam … Die Hauptsache aber war ja doch die schöne Landschaft!