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© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Januar 2000


Der unendliche Adolf
Bilanz der Ausstellung "Das XX. Jahrhundert": Kalkulierter Tabubruch und Normalität
Von THORSTEN HINZ

Für die Kunstausstellung "XX. Jahrhundert" in Berlin, die in der vergangenen Woche zu Ende ging, kann schon jetzt wegen ihrer für deutsche Verhältnisse ungewohnten Leichtigkeit, Ironie und Abgeklärtheit eine heilsame Wirkung auf die kollektive Psyche in Deutschland festgestellt werden. Es war zwar ein Zufall, aber nicht ohne innere Logik, daß kurz nach ihrer Eröffnung die infame Heer-Schau des Jan-Philipp Reemtsma ihre Pforten schließen mußte. Diverse Ost-West-Konflikte, die in der Ausstellung "Deutschlandbilder" 1997 noch mit verletzender Schärfe ausbrachen, wurden nun im gedämpften Ton ausgetragen. Die signifikanteste Debatte drehte sich um das Gemälde "Der Bannerträger" (1937) von Hubert Lanziger, das Adolf Hitler in mittelalterlicher Ritterrüstung und mit aufgepflanzter Hakenkreuzfahne zeigt und in der Ausstellung "Die Gewalt in der Kunst" im Alten Museum in unmittelbarer Nachbarschaft von anerkannten Meisterwerken der Moderne plaziert wurde. Von einigen Kritikern, darunter dem Maler Georg Baselitz, wurde dies als Sakrileg und Beleidigung von Künstlern empfunden, die unter Hitler zum Teil als "entartet" verfolgt worden waren.

Mit diesem kalkulierten Tabubruch lenkten die Ausstellungsmacher nochmals explizit die geballte Aufmerksamkeit auf eine Ausstellungskonzeption, die sich über die Debattenkultur der alten Bundesrepublik souverän hinwegsetzte. Indem Hubert Lanzigers "Bannerträger" als ein – mißratener – Nachfahre von Kandinskys "Blauem Reiter" vorgeführt wird, erscheint "Hitler" als monströses Ereignis der Moderne und erfuhr der Nationalsozialismus eine kulturgeschichtliche Historisierung. Die platte Entgegensetzung von Nationalsozialismus als geistig-kultureller Archaismus deutscher Provenienz und einer weltläufig-fortschrittlichen Avantgarde wurde durch die dargestellte Affinität zwischen hybriden Künstlerträumen und modernem Totalitarismus widerlegt.

Als weiterer Ertrag bleibt aber auch die Einsicht, daß "Hitler" in Deutschland – und nicht nur hier – noch immer den definitiven Kitzel verbürgt und in der Auseinandersetzung der Deutschen mit sich selbst eine, wenn nicht die zentrale Bezugsgröße bleibt. "Wolfsschanze. Hitlers Machtzentrale im Zweiten Weltkrieg", "Hitlers Wien", "Hitlers München", "Hitlers Helfer", "Hitlers willige Vollstrecker", "Tanz den Adolf Hitler – Faschismus in der populären Kultur" – das ist nur eine kleine Auswahl von Büchern und Fernsehsendungen der letzten Zeit. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, daß der Eintritt ins neue Jahrhundert daran etwas geändert hat. "Hitler und kein Ende" – dieser Klageruf besitzt schon seit Jahrzehnten keinerlei Originalitätswert mehr. Von Hitler geht eine nachhaltige Faszination aus, die zur manischen Beschäftigung mit ihm zwingt.

Die Ausstellung präsentierte "Hitler" als Skandalon, nicht aber als Gegenstand, für den die Kunst bisher eine Formsprache gefunden hat, die ihn – zumindest teilweise – als Kunstfigur vom historischen Vorbild emanzipiert. Die vielzitierte Eigengesetzlichkeit der Kunst versagt vor diesem monströsen Phänomen, das vielmehr allen künstlerischen Versuchen einer "Bewältigung" seine eigenen Gesetze diktiert. Doch auch Lanzingers "Bannerträger" erreicht nicht einmal das Niveau einer affirmativen Allegorie, denn allzu ideenlos, plakativ, unbegründet wirkt der Versuch, Hitler als Vollender einer ins Mittelalter zurückreichenden Kontinuität darzustellen. Geschweige denn, daß er etwas Hintergründiges über das Phänomen des "Führers" mitteilen würde.

Hitler als Pop-Ikone, analog zu Andy Warhols "Mao"-Bild von 1973, oder als Objekt der TV-Werbung wie Stalin in Großbritannien ist undenkbar. Sogar die Bildsprache der Werbung kapituliert vor ihm. Kürzlich erhielt ein Vertriebsunternehmen in Taiwan, das mit einem Hitler-Bild deutsche Heizkörper anpries, vom Hersteller die "ultimative Anweisung", die Bilder zu entfernen.

Hitler war ein Diktator, ein Verbrecher, Massenmörder, gewiß. Doch wäre er nur das, wäre er erledigt, abgelegt, überwunden, ähnlich wie Stalin, der sogar noch mehr Menschen auf dem Gewissen hat. Er hatte auch kein Privatleben und keine systematische Bildung. Von seinen schlechten Manieren und Minderwertigkeitskomplexen wird berichtet, dagegen kaum von liebenswerten Eigenschaften oder großherzigen Gesten. Dennoch nannte Gerhart Hauptmann, ein Nicht-Nazi und einer der größten Menschengestalter der Literatur, ihn 1942 "Sternenschicksalsträger des Deutschtums". Für Sebastian Haffner, Nazi-Gegner, Emigrant und Historiker, war er "ein unerklärlich von außen Hereingeschneiter", für Goebbels in den alljährlichen Ansprachen am Vorabend des "Führergeburtstages" einfach "unser Hitler".

Von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehend, haben alle drei den Eindruck einer schicksalhaften Erscheinung mitgeteilt. Auch von bürgerlichen Politikern Englands wurde Hitler eine Aura zugeschrieben, für die es bis heute keine befriedigende Erklärung gibt. Der Filmregisseur Veit Harlan bezeichnete ihn aus eigener Anschauung als "einen Fakir, der sich der Macht seines Atems bewußt war". Es muß von ihm der Eindruck einer unbedingten Willensstärke und eines Glaubens an sich selbst ausgegangen sein, die alle herkömmlichen Maßstäbe von Machtgier oder Sendungsbewußtsein überstiegen.

Stalin und Mao waren vor allem brutale Funktionäre der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie, der sie zwar eine Spezifizierung gaben, an die sie aber gebunden blieben. Ihre Spezifizierungen existierten als "Stalinismus" und "Maoismus" weiter, während die Erinnerung an die Namenspatronen verblaßte. Bei Hitler ist es umgekehrt. Natürlich war auch er ein Medium von Zeittendenzen, doch seine aus Versatzstücken zusammengeklaubte Weltanschauung war in viel stärkerem Maße eine persönliche Angelegenheit und ein Vehikel persönlicher Ambitionen. Ihre Wirksamkeit blieb von der Wirksamkeit seiner Person abhängig. Ein "Hitlerismus" als Weltanschauung konnte ihn daher nicht überleben, während seine Person eine posthume Negativ-Popularität erfährt.

Der italienische Philosoph und Schriftsteller Adriano Sofri hat erstaunliche Parallelen zwischen Hitlers "Mein Kampf" und dem Roman "Hunger" von Knut Hamsun aufgezeigt. Hamsuns darbender Ich-Erzähler, der Züge des Autors trägt, leidet an "Kristiania (...), dieser seltsamen Stadt, die keiner verläßt, ehe er von ihr gezeichnet ist." Hitler schreibt: "Wien, die Stadt, die so vielen als Inbegriff harmloser Fröhlichkeit gilt, als Raum festlich vergnügter Menschen, ist für mich leider nur die lebendige Erinnerung an die traurigste Zeit meines Lebens." Beide, Hamsun und Hitler, standen am Rande der Gesellschaft und fühlten sich von ihr gedemütigt.

Hamsun hat aus seinem harten Schicksal eine vielgerühmte Literatur geformt, die der Welt schließlich seine Überlegenheit als Individuum, als Künstler, sogar als Bürger demonstrierte. Auch Hitler hatte vergleichbare künstlerische Ambitionen, die ihm zum sozialen Aufstieg verhelfen sollten. Während er in Obdachlosenasylen nächtigte, schrieb er, habe er in seiner Phantasie "in reichen Palästen" gelebt. Nach dem Scheitern als Künstler übertrug er seinen schöpferischen Anspruch auf die Politik und formte ein "Reich" nach seinen Vorstellungen. Thomas Mann hat in dem Aufsatz "Bruder Hitler" (1938) die pervertierte "Erscheinungsform des Künstlertums" am "Führer und Reichskanzler" ausdrücklich betont: "Märchenzüge sind darin erkenntlich, wenn auch verhunzt (...): das Thema vom Träumerhans, der die Prinzessin und das ganze Reich gewinnt ..."

Der Umschlag individueller Ohnmachtsgefühle in massenhafte Allmachtsphantasien ist ein Zug der Moderne, die Verwirklichung dieser Phantasien aber die Ausnahme an sich. Die Erzählung vom einzelnen, der die Welt bezwungen hat, ist die wirkungsmächtigste Botschaft, die von "Hitler" ausgeht und seine untergründige Wirkung erklärt. Der Traum des kleinen Mannes – als Massentypus –, es der Welt einmal ordentlich zu zeigen, sich für die Zurücksetzungen und Bevormundungen zu rächen, findet in Hitler eine schillernde Personifizierung, die alle intellektuellen, moralischen und anderweitigen Bedenken nur zu leicht außer Kraft setzt. Den Grund für diese zugleich masochistische Disposition hat Ernst Jünger im "Arbeiter" in dem bündigen Satz geliefert: "Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß er geopfert wird, und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind."

Hitler scheint über diese Befehlskunst um so sicherer verfügt zu haben, weil er bei allem Gigantismus, den er zelebrierte, immer auch der unsichere, verklemmte Spießer geblieben ist. Seine ostentative, stählerne Erhabenheit ging mit biedermeierlicher Traulichkeit einher. Dieses Spannungsfeld zwischen Distanz und Nähe läßt sich gut anhand des Designs und der Architektur analysieren, die Hitler bevorzugte.

So waren die Räume und Einrichtungen auf dem Obersalzberg und in der Neuen Reichskanzlei voller bieder-volkstümlicher Reminiszenzen, versetzt mit einem Schuß jener Mondänität, von der er in seiner Jugend träumte, und hinaufgesteigert in überpersönliche Dimensionen. Man hat von der "Mythologisierung durch Raumwirkung", dem "Pathos der Distanz" und vom "Sargdesign" gesprochen, das vor allem den Besucher der Neuen Reichskanzlei einschüchterte, wenn er die 150 Meter lange und 12 Meter breite Marmorgalerie durchschritt, bis er in das Allerheiligste, ins riesige "Arbeitszimmer des Führers" eintrat, "in dem der ,Führer‘, der Gott saß, dem man sein eigenes Ich als Opfergabe darbringen mußte", so die Architekturhistorikerin Sonja Günther. Doch noch in diesem ganz auf Einschüchterung berechneten nationalsozialistischen Sakralbau signalisierte eine effektvoll eingesetzte Ornamentik dem gewöhnlichen Nationalsozialisten, daß auch er an der Aura der Macht teilhatte. Der Führer nahm sein Opfer an, tötete es aber nicht, sondern entließ es zur Erfüllung vermeintlich großer Aufgaben, entriß es seiner Nichtigkeit, erhöhte es. Daß diese Erhöhung, respektive Erlösung unter Hinweis auf Ziele erfolgen konnte, die jeden humanen Anspruch vermissen ließen, signalisiert den endgültigen Eintritt in die zivilisatorische Eiszeit.

Hitler als Projektion eigener, massenhafter Wünsche, als Spießbürgers wahrgewordener Traum vom Übermenschen und vom Bezwinger der Realität, die ihn überfordert und beleidigt. "Du glaubst, Du schiebst und wirst geschoben, der Spiegel unserer Träume und unserer Gier nach Macht und Gemeinschaft." – auf diese Formel spitzte es der Filmregisseur Hans Jürgen Syberberg in seinem Leinwand-Epos "Hitler – ein Film aus Deutschland" zu.

Von einem Kunstwerk, das "Hitler" tatsächlich erfaßt, müßte daher die Gewalt einer lebendigen Medusa ausgehen. Es würde Künstler und Publikum gleichermaßen überfordern, so daß mit einer wirklichen Katharsis auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist.