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29.01.00 Dreifaches Malheur

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 29. Januar 2000


Dreifaches Malheur
Von HANNELORE PATZELT-HENNIG

Der Briefträger Ennulat, der Jahr für Jahr im Sommer wie im Winter getreulich seinen Bezirk bestellte, hatte nach der Geruhsamkeit der Weihnachtstage ganz unvermittelt ein schlimmes Bein bekommen. Die Schmerzen piesackten ihn so sehr, daß selbst das Allheilmittel Brennspiritus, Tag und Nacht angewandt, keine Linderung brachte. Doch schlimmer als diese Beschwerden traf ihn die Tatsache, daß er mit einem so kranken Bein nicht seinen Dienst versehen konnte. Wer aber sollte das tun?

In aller Frühe des nächsten Tages machte sich seine Tochter Christel auf den Weg, um in der Posthalterei den Ausfall des Vaters zu melden. Es fror kräftig; der Schnee knirschte nur so unter den Füßen. Trotzdem fand die Christel, daß es eigentlich schön sein müsse, so wie der Vater täglich über das weite Land zu ziehen, bei dem einen hereinzuschauen und bei dem anderen vorbeizukommen. Hier ein paar Worte zu schabbern, dort ein bißchen zu plachandern.

In der Christel reifte mehr und mehr der Entschluß, den Vater für die Zeit seines Ausfalls zu vertreten. Und sie hielt mit diesem Gedanken auch nicht hinter dem Berg, als sie auf der Posthalterei war. Dort begrüßte man ihren Vorschlag. So kam es, daß die Christel schon kurze Zeit später mit gefüllter Posttasche wieder vor dem Elternhaus stand.

"Dann nenn’ ich Courage!" sagte der Vater anerkennend und erfreut, nachdem Christel ihm erklärt hatte, daß sie dabei sei, ihn zu vertreten. Sie freute sich, daß ihr Entschluß in des Vaters Sinn war, stellte die Posttasche kurz ab und schnallte sich seine Skier unter. "Na, denn werd ich mal sehen, was sich machen läßt!" sagte sie, als sie auf den Brettern stand.

Die Mutter reichte ihr die Posttasche zu. "Vergeß man keinen!" rief sie dann noch. "Werd’ ich nich; ich kenn se ja alle!", gab Christel zur Antwort. Gleich darauf war sie vom Hof.

Auf dem Nachhauseweg kam ihr einer mit einer Fuhre Langholz entgegen. Es war ein einstiger Schulkamerad von ihr aus einer höheren Klasse. Sie hatten sich seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen und waren beide erstaunt, was für forsche Menschen die dazwischenliegende Zeit aus ihnen gemacht hatte.

Der Hof jenes jungen Mannes lag auf der anderen Seite des Stromes und gehörte eigentlich zu einem entlegenen Dort des Memellandes. Doch der Nähe wegen hatten seine Eltern es einst vorgezogen, ihn in dem Dort zur Schule gehen zu lassen, aus dem die Christel stammte. Den Strom sah man dabei gar nicht so sehr als Hindernis an, und so sagte der junge Mann an jenem Tag, ehe sie auseinandergingen, zur Christel: "Besuch mich doch mal! Wenn du mit dem Postbezirk fertig bist, sind es doch nur ein paar Minuten bis zu mir, hier den Strom entlang!"

Die Christel sagte zu, und drei Tage später machte sie ihr Versprechen wahr. Erst da stellte sie fest, daß der Ewald ganz allein lebte. Seine Eltern waren beide gestorben. – Daß er allein lebte, sollte ein paar Wochen später dazu führen, daß das doppelte Malheur, das ihr widerfuhr, zu einem dreifachen wurde.

Der Ewald hatte in der folgenden Zeit oft unten am Strom auf die Christel gewartet, um sie dort abzufangen und ein Weilchen zu sich hereinzubitten. Und sie war ihm immer gern gefolgt. Es war unvergleichlich gemütlich in jenem Haus am Strom. Und alles war so, als sei die Frau des Hauses nur eben ins Dorf gegangen, um Besorgungen zu machen. Die Christel gewann das alles mehr und mehr lieb und den Ewald dazu.

Ja, und dann kam es eines Tages zu dem Malheur. Viel später als sonst war es an jenem Nachmittag geworden, bis die Christel den letzten Brief abgeliefert hatte. Natürlich wartete Ewald diesmal nicht mehr dort – bei dreieinhalb Stunden Verspätung! In Windeseile stob die Christel den Strom entlang. Noch ein kleines Stück, und schon lag das strohgedeckte, holzverschalte Haus mit seinem rauchenden Schornstein vor ihr. Sie meinte bereits seine Behaglichkeit zu spüren. Da aber knackte und prasselte es plötzlich und Christel steckte im eisigen Wasser! Gott sei dank nur zur Hälfte, halb hing sie noch auf dem Eis. Sie war in eine Wune geraten, ein Loch im Eis, das nur leicht zugefroren, durch Neuschnee verdeckt, sich nicht mehr von der Fläche rundum unterschied. Mit viel Mühe konnte sich die Christel aus ihrer gefährlichen Lage retten. Nur die Posttasche versank im Strom, und mit ihr so einiges Geld, das die Christel vom Zustelldienst mitgebracht hatte. Ein doppeltes Malheur also!

Erschöpft schleppte sich Christel zu ihrem Ewald, der sie fürs erste lieb zu trösten wußte. So naß, wie sie war, konnte sie nicht aus dem Haus. Sie mußte zunächst einmal die Sachen trocknen und sich richtig durchwärmen. In Kleidern von Ewalds Mutter und in mollige Decken gehüllt saß Christel dann auch bald am warmen Kachelofen und sah sich von Ewald umsorgt. Ein steifer Grog wärmte von innen, so daß ihr unvergleichlich wohl zumute wurde.

Draußen aber dämmerte es bereits. Doch Christels Sachen waren noch keineswegs trocken. Sorgenvoll befühlte sie immer wieder die Kleider. Der Ewald versuchte sie auch jetzt zu trösten: "Mach dir nichts draus! Bleibst eben bei mir, ich freu mich über deine Gesellschaft!" sagte er. Und er setzte sich zu ihr auf die Ofenbank und legte seinen Arm um ihre Schultern.

"Die Eltern werden sich schrecklich sorgen!" entgegnete die Christel.

"Sie können sich freuen, daß du nicht ertrunken bist!" gab der Ewald zu bedenken.

Christel blieb. Aber am nächsten Morgen in aller Frühe wollte sie heim, schließlich gab es zu Hause noch allerhand zu beichten. Und wenn die Christel daran dachte, vergingen ihr Hören und Sehen. Dennoch war es aufregend schön, hier zu sein. Der Ewald war ein großartiger Mensch. Das erkannte sie in dieser Zwangslage ganz klar. Um nichts in der Welt hätte sie die Stunden, die sie bei ihm verbrachte, eintauschen wollen. Sie brach am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe auf. Der Ewald ging mit ihr. "Bis zum anderen Ufer begleite ich dich, wer weiß, wo du mir sonst landest!" scherzte er.

"Untergehen oder vor meinem Vater stehen, das ist für mich heute morgen ziemlich dasselbe!" gab die Christel mit einigem Galgenhumor zu verstehen.

Damit behielt sie recht. In die Memel zu fallen war schon ein Malheur, das nach Ansicht des Vaters gar nicht hätte passieren dürfen, weil die Christel nichts auf dem Strom zu suchen gehabt hatte. Und daß die Tasche mit dem Geld versunken war, empfand der redliche Mann geradezu als unverzeihlich. Doch daß seine Tochter außerdem noch eine ganze Nacht mit einem fremden jungen Mann allein in dessen Haus verbracht hatte, das setzte allem die Krone auf! Christel hätte es verschweigen und sich herauslügen können, aber das wollte sie nicht. Die Eltern sollten die volle Wahrheit wissen; denn schon am nächsten Sonntag wollte der Ewald herüberkommen und um ihre Hand anhalten. Dann hätten sie ohnehin erfahren, daß er allein lebte. Und daß er kommen wollte, gab ihr Mut. Als der Vater mit dem Schimpfen gar nicht aufhören wollte, deutete sie es sogar an. Aber erst nachdem der Ewald bei den Eltern gewesen war, glätteten sich die Wogen wieder. Da gab der Vater der Christel plötzlich zu verstehen, daß er alles nicht so gemeint hätte und daß das versunkene Geld keinesfalls von ihrem Sparbuch zu holen sei, wie er angedeutet habe, denn es sei ja schließlich sein Dienst gewesen, den sie versehen hätte.

Die Christel zog dann noch im selben Jahr als Ewalds Frau ganz hinüber in das gemütliche, anheimelnde Haus am Strom, und das dreifache Malheur war vergessen.