19.04.2024

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29.01.00 Nur raus aus dem Inferno

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 29. Januar 2000


Flucht 1945:
Nur raus aus dem Inferno
Wie ich als Sechsjähriger den Untergang Ostpreußens erlebte (Teil I)
Von Alfred Nehrenheim

Die "ersten Stationen":

geboren am 1. 5. 1938 in Klimken.

Umzug nach Angerburg – Gutshaus Reußen.

Todestag meines Vaters: 17. 9. 1944 – gefallen in Frankreich. – Nachricht erfolgte aus Rücksichtnahme auf die Niederkunft meiner Mutter erst sechs Wochen später, denn am 20. 9. 1944 wurde mein Bruder Bernd geboren.

"Evakuierung" am 6. 11. 1944 nach Kiwitten, Kreis Heilsberg.

Am 8. 11. 1944 Einquartierung bei dem Bauern Rehag in Kiwitten.

Am 28. 12. 1944 Gelbkreuzvergiftung am rechten Fuß.

Am 3. 1. 1945 morgens mit den letzten Soldaten raus aus Kiwitten.

Auf einem kleinen, handgezo-
genen Leiterwagen wurden
alle unsere noch verbliebenen Sachen verstaut und notdürftig gegen die Nässe geschützt. Es handelte sich in erster Linie um Bekleidung und Eßwaren. Letztere waren zu diesem Zeitpunkt noch reichlich – wenn auch in kleiner Auswahl – vorhanden. Mein kleiner Bruder wurde in Kissen gepackt und in seinem Kinderwagen mit einem Stück Zeltplane gegen den Schnee und den Regen geschützt. Ich selbst mußte mit meinen Filzschuhen, die wegen der Schwellung am Fuß oben geschlitzt waren, durch den Schneematsch laufen. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich noch nicht daran (und mein damaliger Verstand hätte mir auch jede Vorstellung verweigert), daß dieser Fußmarsch über fast 1000 Kilometer quer durch Deutschland führen sollte. Die Straße Richtung Heilsberg war mit Treckfahrzeugen hoffnungslos verstopft und ein Vorwärtskommen der Gespanne kaum möglich. Doch das aus dem Osten immer wieder heranorgelnde Donnern von schweren Geschützen zwang zur Weiterfahrt.

Mit unserem kleinen Gefährt waren wir viel schneller als die Pferdefuhrwerke, und so überholten wir manche Bekannten, die teilweise schon einen Tag vor uns aufgebrochen waren. Darunter auch eine Familie aus dem Kreis Angerburg, die in der vorletzten Nacht im Hause unserer Quartiersleute Rehag übernachtet hatte. Durch vorbeiziehende Soldatenfahrzeuge – meist waren es Kettenfahrzeuge – wurde der Weg für unser kleines Fahrzeug immer beschwerlicher, zumal die dünnen Reifen des Kinderwagens kaum Grund fanden. Wir befanden uns kurz vor einer kleinen Anhöhe, etwa fünf Kilometer vor Heilsberg, als mein Bruder Hans entkräftet stehenblieb – er mußte als knapp 15jähriger den Handwagen allein durch den Matsch ziehen –, um auf die bekannte Familie mit dem Treckwagen zu warten. Meine Mutter mit dem Kinderwagen an der Hand und ich, wir zogen weiter, da mein kleiner Bruder unbedingt neue Windeln brauchte und auch sein Hunger gestillt werden mußte. Im Freien und bei diesen Wetterverhältnissen war das nicht möglich.

Zu diesem Zeitpunkt wußte noch niemand von uns, daß dieses ein Abschied für viele ungewisse Wochen sein würde.

Verabredet war, daß wir im ersten Haus in Heilsberg halten und auf meinen Bruder warten wollten. Nachdem meine Mutter ihren kleinen Menschen trockengelegt und gestillt hatte, warteten wir mit Ungeduld auf das Eintreffen meines Bruders. Es war bereits dunkel geworden, und das Donnern der Geschütze war jetzt schon so nahe, daß man den Widerschein des Geschützfeuers am Himmel sehen konnte.

Da ein Vorwärtskommen mit den schweren Treckwagen nicht möglich war, lösten viele die Gespanne auf und ritten mit den Pferden querfeldein los. Meine Mutter lief aus lauter Verzweiflung die Straße zurück, aber die rückflutenden Soldaten schickten sie wieder in Richtung Heilsberg. Um nicht von der Front überrollt zu werden, mußten wir also weiter, immer dem Haff entgegen, denn hier sollte eine Möglichkeit vorhanden sein, mit Schiffen über die Ostsee nach Dänemark oder Schleswig-Holstein aus diesem Inferno hinauszukommen. Der Weg über Elbing – nach Westen – war durch einen sowjetischen Vorstoß auf diese Stadt für die fliehenden Menschen aus Ostpreußen versperrt.

Weiter ging es also. Mein kleiner Bruder, jetzt ohne notwendige zusätzliche Nahrung und Wechselwindeln bzw. sonstige Bekleidung – alles war ja bei meinem großen Bruder geblieben – im Wagen von meiner verzweifelten Mutter geschoben und ich mit einem faulenden Fuß, der nur durch die eisige Kälte vor Schmerzen bewahrt wurde.

Nur weiter, immer weiter, mehr war einfach nicht im Kopf vorhanden. Wie im Trancezustand kann ich mich noch daran erinnern, daß Soldaten mit einem selbstgezimmerten Baumschlitten hinter einem Pferdegespann unseren Kinderwagen und mich aufluden, und weiter ging es Richtung Mehlsack. In Mehlsack angekommen, erwartete uns eine häßliche Fratze des Menschen. Heute sage ich, das war und ist natürlich, denn in der größten Not ist sich jeder selbst der Nächste, und wer etwas anderes behauptet, hat nie in seinem Leben wirkliche körperliche oder geistige Not gelitten.

Vor jedem Haus und jedem Schuppen standen Posten und ließen auch nicht mehr einen Menschen eintreten. Die Häuser waren vollgestopft mit Leibern. Irgendwo, wir waren bereits schon hinter Mehlsack, erbarmten sich einige Leute und ließen uns in eine alte Scheune eintreten. Der Kinderwagen mußte aber draußen bleiben, weil er zuviel Platz wegnahm. Die Windeln konnten nun "gewechselt" werden. Das bestand darin, daß meine Mutter altes Stroh nahm und das "Feste" abrubbelte, um dann – in Waschfrauenmanier – das Feuchte aus dem Tuch zu wringen. Diese vor Kälte steifen Lumpen wurden dann wieder um den heißen Körper gewickelt, wo sie wieder auftauen konnten.

In der Zeit des "Stillens" schlief meine Mutter auf dem Boden vor Erschöpfung ein. Ob das winzige Menschlein in dieser Nacht wirklich etwas zu sich nehmen konnte, bezweifle ich, denn was sollte aus der ausgemergelten Brust entnommen werden? Ich selbst hatte einen Platz an einem gefüllten Sack erhascht und konnte so stehend schlafen. Meinen rechten Filzpantoffel konnte ich ausziehen und den steifgefrorenen Fuß in einem Strohbüschel anwärmen. Die Kälte hatte aber auch einen Vorteil, denn sie trocknete den Pantoffel über Nacht wieder aus. Am Morgen war große Aufbruchstimmung, alles ging drunter und drüber. Die Leute stritten um Pferde und Wagen, um Plätze und Klamotten. Jeder versuchte das Beste für sich zu ergattern, bevor es dann wieder hieß: Auf zum Haff!

Da ich sehr große Schmerzen hatte – der Fuß war erwärmt, und die Nerven konnten ihre Signale senden –, bestand meine Mutter darauf, daß wir auf die Soldaten warten sollten, damit ich verarztet werden konnte. Wir hatten auch das notwendige Glück. Ein fliegender Verbandsplatz und ein dazugehöriger Troß machten in unmittelbarer Nähe Rast. Nicht nur mein Fuß bekam die notwendige Pflege, sondern auch passende Windeln wurden ergattert. Zu allem Überfluß schlachteten die Soldaten auch noch ein Rind. Dieses Festmahl, an dem wir teilnehmen durften, ist eine Erinnerung an die Flucht, die mit Frohmut erfüllt ist. Sogar Milch für unseren kleinen Erdenbürger war vorhanden und konnte mundgerecht gefüttert werden. Es müssen drei oder vier Tage gewesen sein, die wir in diesem "Schlaraffenland" verbringen durften, dann war es wieder der Feuerschein am Horizont, der uns zum Weiterziehen trieb.

Elbing war also dicht, es blieb nur das Haff.

In schier endlosen Tagen, Nächten und Stunden schlugen wir uns, immer das Grollen des Krieges im Nacken, durch bis Heiligenbeil. Hier war die Welt zu Ende! In meinem ganzen folgenden Leben habe ich nicht soviel menschliches bzw. tierisches Elend gesehen wie hier vor der natürlichen Hürde des Haffs.

Die bewegliche Habe von ca. 2,5 Millionen ostpreußischer Menschen muß hier abgeworfen worden sein. Berge von Wagen Kleidung, Hausrat, Hunden und anderen Haustieren. Alles, was den vor der anrückenden Front aus dem Osten fliehenden Menschen teuer und wertvoll erschien, hier lag es nun und wurde von den dann bald erscheinenden Siegern für den eigenen Gebrauch gesichtet.

Ein wenig Zeit jedoch blieb noch.

War es Gottes Fügung oder nur eine Laune der Natur? Der in diesem Schicksalsjahr herrschende Winter in Ostpreußen ließ das Haffwasser gefrieren, auch wenn das Eis seine Tücken hatte, da der Windstau es "schwimmen" ließ.

All diese Gedanken und Überlegungen waren mir zu jener Zeit völlig fremd. Erst als das Leben mir bewußt wurde, habe ich über diese Dinge nachgedacht, und es wird in meinem Innern immer mehr als ein nicht erklärbares Wunder Bestand haben. Ich glaube nicht, daß jemals gefrorenes Wasser so vielen Menschen das Leben gerettet hat, wie es zu jener grausamen Zeit geschah.

Jedoch auch in diesen unmenschlichen Tagen mußte alles seine "Ordnung" haben. Da das Eis nur begrenzt tragfähig war und daher nur eine bestimmte Anzahl Menschen und Wagen tragen konnte, teilten eingesetzte Soldaten und Polizei diese nach "Bedürftigkeit" ein. Nach einer Registrierung durften wir dann am dritten Tag unserer Ankunft in Heiligenbeil, es war der 7. Februar 1945, aufs Haff.

Wenn auch bald bis zu den Knien im Tauwasser, es ging jedenfalls voran. Vorbei an versackten Gespannen. Oftmals ragte ein noch qualmendes Schornsteinrohr aus den eben sichtbaren Treckaufbauten heraus, so als wärmten sich die ertrunkenen Menschen am brennenden Holzofen. Immer wieder wurde der Menschenstrom zur Nehrung aufgehalten, wenn russische Tiefflieger zum Scheibenschießen am Himmel erschienen. Nun galt es nur, sich einfach ins Wasser zu werfen und darauf zu hoffen, daß der Pilot keine Munition für einen angeblichen Toten verschwenden würde.

Ratata, ratata.

Wenn dieses Geräusch abnahm, dann konnte man wieder aus dem Wasser hervortauchen und den endlosen Marsch zur Nehrung fortsetzen. Gut, daß niemand etwas über die Zukunft aussagen kann. Auch wenn diese Zukunft so nahe liegt, denn dann wäre meine Mutter mit uns beiden Kindern wohl bis ans Ende der Welt über (durch) das Haff gelaufen. Aber noch waren wir nicht an unserem Etappenziel: die Nehrung.

– Welch eine Wortverwandtschaft zu meinem Familiennamen: Nehrenheim. –

Ein nachfolgender Militärwagen lud im Vorbeifahren kurzerhand den Kinderwagen auf, und wir mußten uns sputen, um mit dem Gespann mitzuhalten. Am späten Nachmittag des 7. Februar erreichten wir die Nehrungsküste und marschierten Richtung Narmeln. Unterwegs standen Soldaten an Feldküchen und verteilten Grießsuppen. Auch wir bekamen unsere Feldflasche gefüllt und konnten auch gleichzeitig noch schnell einen Löffel aus dem Geschirr vertilgen. Unser Kleinster bekam auch seine Ration, aber an eine Pflege, die er als Säugling unbedingt notwendig hatte, war bei diesen Temperaturen und Wetterverhältnissen nicht zu denken. Wir mußten unbedingt ein Haus oder eine Hütte erreichen. (Fortsetzung folgt)