28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
12.02.00 Würdigung:

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 12. Februar 2000


Würdigung:

"Das Wichtigste aber lernte ich von Heidegger"
Der Philosoph Hans-Georg Gadamer beging seinen 100. Geburtstag
Von Oliver Geldszus

Das Telefon reißt ihn in den letzten Tagen häufiger als sonst aus seiner Ruhe – der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat zur Zeit allen Grund, über die Last zu klagen, ein Zeuge des Jahrhunderts zu sein. Anfragen von Presse, Funk und Fernsehen stapeln sich auf seinem Schreibtisch. Die Medien haben den letzten großen Hermeneutiker für sich entdeckt. Denn Gadamer ist so alt wie das zu Ende gehende Säkulum selbst: am 11. Februar feiert er seinen 100. Geburtstag, und die Heidelberger Universität läßt es sich nicht nehmen, ihm zu Ehren einen großen Festakt zu geben.

Einsam wie ein Fels ragt der Philosoph in die deutsche Gegenwart hinein aus einer Zeit, da Edmund Husserl in Freiburg zu Beginn des Jahrhunderts die neue Phänomenologie begründete und Martin Heidegger die menschliche Existenz zwischen Sein und Zeit zu orten versuchte. Im Kaiserreich geboren, hat er die deutschen Wege und Irrwege des Jahrhunderts bis zum heutigen Tag begleitet.

Hans-Georg Gadamer wurde am 11. Februar 1900 in Marburg an der Lahn als Sohn eines Naturforschers geboren. Seine Jugend- und Schulzeit verbrachte er in Breslau, wo er zunächst auch ein Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte begann, daß er später in Marburg und München fortsetzte. Unter dem Eindruck des Neukantianismus promovierte er 1922 bei Paul Natorp mit einer Arbeit über Platon.

Die Begegnung mit Heidegger ein Jahr später hinterließ einen großen Eindruck auf den gerade 23jährigen Doktor der Philosophie. Er löste sich allmählich von der Sogkraft der Kantischen rein rational orientierten Philosophie und wandte sich dem nur elf Jahre älteren Heidegger zu, der 1927 mit seinem Hauptwerk "Sein und Zeit" die Grundlagen seines Existentialismus legte – einer philosophischen Schule, deren Wirkungen noch heute spürbar sind. Gadamer hat in seiner "Selbstdarstellung" einmal die Relevanz des wohl bedeutendsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts unzweifelhaft beschrieben: "Das Wichtigste aber lernte ich von Heidegger. Mir war damals keineswegs klar, daß man Heideggers Bemerkung, daß das Gewissen in der Vernünftigkeit enthalten sei, noch in ganz anderer Weise verstehen konnte, nämlich im Sinne einer geheimen Kritik an den Griechen. Mir war durch seine provokative Bemerkung jedenfalls ein Weg gezeigt worden, fremde Fragen zu eigenen werden zu lassen und sich zugleich die Vorgreiflichkeit von Begriffen bewußt zu machen."

Gadamer studierte nach seiner frühen Promotion noch einmal Klassische Philologie in Marburg und habilitierte schließlich 1929 bei Heidegger. Nach einigen Jahren als Privatdozent erhielt er 1937 endlich den lang ersehnten Ruf als ordentlicher Professor nach Marburg. Zwei Jahre später ging er nach Leipzig, wo er bis 1947 tätig war.

In Abständen immer wieder als "erfolgreichster Philosoph der Bundesrepublik" gefeiert, hat Gadamer das Dritte Reich völlig unbeschadet überstanden; selbst die sowjetischen Kontrollkommissare vertrauten ihm nach dem Krieg sofort und ohne erkennbares Mißtrauen das Amt des Rektors an der Leipziger Universität an. Zwar gab es einen "Fall Heidegger", aber keinen "Fall Gadamer", um von einem Fall Carl Schmitt in diesem Zusammenhang ganz zu schweigen. Das lag vornehmlich daran, daß sich Hans-Georg Gadamer noch stärker als Heidegger und Schmitt aus der nationalsozialistischen Öffentlichkeit fernhielt und eher im grauen akademischen Milieu seine Wissenschaftskarriere betrieb. Dennoch hatte auch er seine Berührungspunkte mit dem politischen Alltag. Dominierend waren dabei seine Versuche, die NS-Zeit philosophisch wahrzunehmen und zu interpretieren.

Gadamers Platon-Deutung von 1934 steht beispielsweise in engem Zusammenhang mit der Bücherverbrennung und dem Gang vieler prominenter Künstler ins ausländische Exil. Die Auswanderung kritischer Schriftsteller setzte er mit der Ausweisung der Dichter aus dem platonischen Staat gleich – wodurch automatisch das Dritte Reich philosophisch erhöht wurde. Gefeiert wurde der Schutz der Jugend vor dem sophistischen, intellektuellen Geist und ihre Erziehung zu den platonischen "Wächtern" des neuen Staates. Als Leipziger Hochschullehrer hielt Gadamer 1941 im besetzten Paris den Vortrag "Volk und Geschichte im Denken Herders". Er korrespondierte mit den herrschenden NS-Bemühungen, die Vorherrschaft des deutschen Denkens in Europa zu manifestieren. Entsprechend zog Gadamer mit dem Romantiker Herder gegen den französischen Geist zu Felde. Immer wieder hatte Herders Humanitäts-Begriff Anstoß im wissenschaftlichen Betrieb des Dritten Reiches erregt. Gadamer aber integrierte ihn geschickt in die gängige nationalsozialistische Philosophie, indem er die Humanität als "Natur des Menschen" deutete, die sich als legitime Kraft in der Weltgeschichte durchsetzt.

Hatte der Pariser Herder-Vortrag noch unter dem Eindruck der deutschen Blitzsiege im Zweiten Weltkrieg gestanden, so widmete sich Gadamer seit der Kriegswende von Stalingrad den Problemen des "Staatsverfalls in der Tyrannei" sowie der "Heilung kranker Staatswesen". Wie so oft bot ihm Platons Staatstheorie dabei die Folie, um die politische Gegenwart zu analysieren. Seine Ergebnisse ähnelten dabei den Konzepten der nationalkonservativen Opposition gegen Hitler oder verschiedener intellektueller Kreise in den NS-Führungsebenen.

Nach 1945 blieb Gadamer stärker als bisher schon der Politik abstinent. In seiner Rektoratsrede 1946 in Leipzig war er bezeichnenderweise bemüht, die Wissenschaft als unabhängige Institution von der Politik abzugrenzen und der Philosophie eine neue Legitimation zu verleihen. Durchaus im Sinne der Sowjetischen Militäradministration beschrieb er den Wissenschaftler dabei als verkannten Bruder des Arbeiters.

Ein Jahr später wechselte Gadamer aus dem kommunistischen Machtbereich in die Westzonen. Im Jahr der Gründung der deutschen Teilstaaten trat er 1949 die Nachfolge von Karl Jaspers in Heidelberg an, wo er bis zu seiner Emeritierung 1968 lehrte. Platons fixe Idee vom idealen Staat blieb für Gadamer zeitlebens beherrschend. Linke Kritiker sahen darin einen "Nachhall der Faszination des Faschismus". Andere hingegen bezeichneten es als seine große Leistung, die "philosophische Tradition von Platon bis Heidegger in den Haushalt der prosaischen Bundesrepublik eingeschmuggelt" zu haben.

Gadamer hat nicht nur einen großen Ruf als Denker seiner Zeit, sondern gilt auch als hervorragender Lehrer, der während seiner langen und intensiven Tätigkeit an der Universität einen großen Kreis von Schülern um sich versammelte, die heute zum Teil selbst als anerkannte Philosophen und Lehrer tätig sind wie Walter Schulz, Dieter Henrich oder Reiner Wiehl. Gadamers Lehrtätigkeit beschränkte sich nicht auf Deutschland. Er hielt vor allem nach dem Ausscheiden aus der Universität Vorlesungen und Seminare im Ausland, besonders in den USA, in Kanada und Italien. 1971 erhielt er den Orden "Pour le mérite".

Zwar war Gadamer ein Schüler Heideggers in dessen Freiburger und Marburger Zeit zwischen 1923 und 1928, doch war darüber hinaus sein Geschichts- und Philologiestudium ebenso prägend für ihn. Aus dieser Summe entwickelte er als sein spezielles philosophisches Verdienst die moderne Hermeneutik in Deutschland, die Lehre von der Auslegung, Deutung und Interpretation von Schriften, Werken und Kunstgegenständen. Auch einige Motive aus der antiken Philosophie, z. B. Platos Dialektik, die Rationalität bei Aristoteles sowie der antike Realismus wurden in sein hermeneutisches Denken integriert.

Diese Verfahrensweise legte er vor allem in seinem Hauptwerk "Wahrheit und Methode" 1960 dar, das bis heute weltweite Beachtung findet. Gadamer beeinflußte nicht nur das philosophische Denken, sondern wirkte auch auf Literaturwissenschaft, Theologie und Soziologie ein.

Entsprechend breit ist die Palette seiner zahlreichen Veröffentlichungen und Schriften. Er widmete sich in seiner Heidelberger Lehrstuhlzeit so unterschiedlichen Themen wie dem Lyriker Celan, den Vorsokratikern, Platon, Hegel, Heidegger oder Goethe. Die zwischen 1985 und 1995 in Tübingen erschienene Ausgabe seiner gesammelten Werke liest sich daher nicht zufällig zum Teil als anregende Essay-Sammlung. Gadamer ist heute einer der prominentesten deutschen Philosophen und genießt seinen internationalen Ruf zu Recht als Begründer einer neuen Hermeneutik.

Er versinnbildlicht dabei eine wesentliche Tendenz in der europäischen Philosophie der Moderne. Denn was ist die Hermeneutik sonst als das heimliche Eingeständnis, daß die großen philosophischen Fragestellungen der Menschheit längst aufgeworfen, wenn nicht gar bereits beantwortet sind? Vor allem Nietzsche markiert hier einen Endpunkt in der abendländischen Denktradition. Auf diesen Aspekt hat Gadamer selbst einmal hingewiesen, als er die geistigen Einflüsse seiner Jugend beschrieb: "Es ging um die Wahrheit, die nicht so sehr in allgemeinen Aussagen und Erkenntnissen als in der Unmittelbarkeit des eigenen Erlebens und in der Unvertretbarkeit der eigenen Existenz ihren Ausweis haben sollte. Dostojewskij vor allem schien uns davon zu wissen. Die roten Piper-Bände der Dostojewskischen Romane flammten auf jedem Schreibtisch. Die Briefe van Goghs, Kierkegaards "Entweder-Oder", das er Hegel entgegenhielt, zogen uns an, und hinter all den Kühnheiten und Gewagtheiten unseres existentiellen Engagements stand – eine noch kaum sichtbare Bedrohung des romantischen Traditionalismus unserer Bildungskultur – die Riesengestalt Friedrich Nietzsches mit seiner ekstatischen Kritik an allem, aber auch an allen Illusionen des Selbstbewußtseins. Wo war der Denker, dessen philosophische Kraft diesen Anstößen gewachsen war?"

Geradezu verräterisch entlarvt diese rhetorische Fragestellung Gadamers Zweifel an der Potenz neuer Philosophien. In der Tat hat er lediglich seinem Freund und Mentor Heidegger hier eine gewisse Größe und Eigenständigkeit zugebilligt. In den neomarxistischen Theorien eines Adorno oder Habermas aber vermochte er nur emphatisches Epigonentum zu erkennen. Seine Hermeneutik wollte daher nie den Universalanspruch philosophischer Wahrheitslösungen vertreten; Gadamer suchte ganz im Gegenteil lediglich einen Schlüssel zu liefern, die bestehenden Texte und Gedankengebäude besser verstehen zu können. Hermeneutik ist notwendig eine spätere Form der Philosophie, da ihre Existenz das Vorhandensein alter Theorien geradezu voraussetzt. Gadamer verzichtete in seiner Arbeit auf ein Resüme, auf einen summarischen aus der Menschheitsgeschichte und in die Zukunft gerichteten neuen Theorieentwurf. Er bot dafür die Technik sowie Interpretationen und Analysen an. Sollte die moderne Philosophie im neuen Jahrtausend noch einmal eine staats- oder gesellschaftspolitische Theorie wagen, so kann sie mit Gewinn auf die Hermeneutik Gadamers dabei zurückgreifen.

Im Alter beschäftigt sich der Hermeneutiker zunehmend mit den Problemen der Vereinsamung und Freiheit innerhalb der modernen Demokratien und Massengesellschaften. Die Welt sieht er seit 1989 im permanenten Umbruch, ohne daß sich ihr endgültiges Gesicht bereits gezeigt hätte. Besorgt äußert er sich vor allem über die Tendenz der massenmedialen Volksverdummung und den zunehmenden Bildungsverlust der klassischen Sprachen. In diesem Zusammenhang empfiehlt Gadamer den Blick nach Amerika: In den USA werden teilweise wieder Lateinschulen geöffnet, und es herrscht an den Universitäten ein neues Interesse an der Philosophie, nicht zuletzt auch an seiner Hermeneutik. Es ist bezeichnend genug, daß Deutschland und Europa anscheinend selbst die Bestandteile seiner eigenen Kultur mittlerweile aus Amerika importieren muß.

Mit dem Geheimnis seines Alterns und seiner erstaunlichen geistigen wie auch körperlichen Vitalität hat sich der letzte große Zeitzeuge des Jahrhunderts nie beschäftigt. Nach wie vor setzt er sich fast jeden Tag an seinen Schreibtisch. Häufig arbeitet er bis tief in die Nacht hinein, wobei er nach eigenem Bekenntnis die meiste Zeit mit der Suche nach Verlorenem verbringt. Seinen Tagesablauf kurz vor dem hundertsten Geburtstag hat Gadamer selbst einmal so beschrieben: "Ich höre die Katze schreien und sage mir: Jetzt mußt du aber aufstehen. Wenn ich sehr müde bin, schlafe ich trotz des Geschreis wieder ein. Ich bin ein sehr guter Schläfer, aber ich träume wenig. Meist langweiliges Zeug: daß ich eine Verabredung verpaßt oder einen Zug versäumt habe.

Nach dem Frühstück ziehe ich mich in mein Arbeitszimmer zurück, das zum Garten hinaus liegt. Auf meinem Tisch sind Gebirge von Akten aufgebaut, darunter auch Briefe, die mir Heidegger geschrieben hat. Nach ihnen suche ich seit langem vergeblich. Ich befürchte immer mehr, daß die Katze den Packen vom Tisch und in den Papierkorb gefegt hat. Ich bin ja eigentlich ein schlechter Versorger von Papierkörben. Ganz anders Heidegger! Ihm fiel so viel ein, daß er alles, was ihm nicht gefiel, sogleich wegwarf." – Treffender kann man vielleicht nicht den Unterschied zwischen dem Hermeneutiker Gadamer und dem Seins-Philosophen Heidegger beschreiben.