23.04.2024

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19.02.00 Finanzierung politischer Umstürze während des Ersten Weltkrieges (Teil VI) / Von Hans B. v. Sothen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. Februar 2000


"Elemente, die Sie kennen …"
Finanzierung politischer Umstürze während des Ersten Weltkrieges (Teil VI) / Von Hans B. v. Sothen

Die Deutschen hatten nach dem Frieden von Brest-Litowsk zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrußland am 3. März 1918 keine große Freude an ihren neuen sowjetischen Nachbarn. Auch die Sowjets schlossen zwar bereits am 15. Dezember 1917 einen Waffenstillstand mit den Deutschen und traten eine Woche später in Friedensverhandlungen ein, doch zum Friedensvertrag ließen sie sich erst herbei, als Trotzkis katastrophale Provokations- und Nadelstichpolitik, die davon ausging, in der deutschen Armee werde es sofort nach der bolschewistischen Revolution Aufstände geben, in einem Fiasko für die Sowjets endete. Aber auch noch nach dem Friedensvertrag, im April 1918, mußte General v. der Goltz mit Hilfe gelandeter deutscher Truppen die Bolschewisten vertreiben.

Lenin mochte deutsches Geld angenommen haben und dem deutschen Wunsch nach einem Separatfrieden entgegengekommen sein, eine Marionette des deutschen Generalstabs war er deshalb noch lange nicht. Der kaiserliche Botschafter, Wilhelm Graf v. Mirbach-Harff, wurde am 5. Juni 1918 von linken Sozialrevolutionären in Zusammenarbeit mit Teilen der Geheimpolizei Tscheka im Gebäude der Deutschen Botschaft in Moskau erschossen. Der Mörder, Blumkin, wurde später treuer Gefolgsmann Stalins im sowjetischen Geheimdienst.

Die sowjetrussischen Botschafter Kopp und Joffe bauten ihre Botschaft in Berlin mitten im Krieg zu einer Zentrale des revolutionären Umsturzes in ganz Mitteleuropa aus. In der alten vormals kaiserlich russischen Botschaft Unter den Linden gingen nun die Unzufriedenen ein und aus. Sie blickten voller Bewunderung auf das junge Sowjetrußland, das verwirklicht hatte, wovon sie alle träumten: die Revolution. Aber hier empfingen sie in steigendem Maße auch die Aufträge für den subversiven Kampf zur Verwirklichung der Weltrevolution. Es ging bisweilen zu wie im Bienenstock. Sowjetrussische Politiker und Spione verkehrten dort ebenso wie Diplomaten oder Reichstagsabgeordnete der linkssozialistischen USPD, die seit Anfang 1918 immer offener auf einen gewaltsamen Sturz der Reichsregierung hinarbeitete. Ständig kamen dort große Mengen von Gepäck in Diplomatenkoffern an. Man hatte schon lange den Verdacht, die Botschaft erhalte laufend Material, um in Deutschland die Revolution vorzubereiten: Flugblätter – aber auch Waffen. Der USPD-Mann Emil Barth schrieb später in seinen Memoiren, er habe erhebliche Mengen an Waffen erhalten, um in Deutschland einen Umsturz zu organisieren. Das beunruhigte in steigendem Maß auch die Reichsregierung.

Doch erst wenige Tage vor dem Ausbruch der Novemberrevolution in Deutschland wagte man, dem immer offensichtlicher werdenden Treiben der Sowjetbotschaft Einhalt zu gebieten. Der deutsche Geheimdienstchef, Oberst Wilhelm Nicolai, stellte fest, daß die sowjetischen Kuriere im Reich nicht nur in tadellosem Deutsch verfaßte revolutionäre Flugschriften verteilten, sondern auch in allen Industrieregionen Deutschlands auftauchten und mitten im Krieg Propaganda betrieben, die sich von der der Alliierten nur dadurch unterschied, daß diese noch wesentlich radikaler war.

Es fiel Oberst Nicolai zunächst schwer, den deutschen Politikern die Brisanz der Lage klarzumachen. Die Reichsregierung unter Kanzler Prinz Max von Baden – auch der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, der wenige Tage später die Republik ausrufen sollte, gehörte ihr als kaiserlicher Minister an – konnte aber doch überzeugt werden, zu einem Trick zu greifen.

Das Diplomatengepäck einfach öffnen, das durfte man nicht: dies hätte einen eklatanten Bruch des Völkerrechts bedeutet. Aber man konnte versuchen, einen dieser Koffer beim Transport "aus Versehen" fallen zu lassen, so daß er aufgehen mußte. Dann würde man ja sehen. Und tatsächlich: der betreffende Koffer, einer von zwölf, fiel auf dem Bahnhof Berlin-Friedrichstraße die Treppe hinunter. Er barg Hunderttausende Flugblätter, die zum Sturz der deutschen Regierung aufriefen. Das genügte. Zwar protestierten die Sowjets pflichtschuldigst wegen der "Provokation", aber die Geduld der deutschen Regierung war nun zu Ende. Das Personal der Sowjetbotschaft wurde noch am selben Tage, am 5. November 1918, aufgefordert, das Deutsche Reich zu verlassen. Diesmal wurde auch erstmals Weisung erteilt, daß der Sowjetbotschafter nicht auch noch, wie er es sonst auf seinen Fahrten stets zu tun pflegte, auf der Fahrt durch das östliche Kriegsgebiet, bolschewistische Propaganda trieb. Nicolai fragte sich zu Recht, wie wohl die alliierten Regierungen mit einem Sowjetbotschafter verfahren wären, der sich in jenem Stadium des Krieges auf eine solche Weise benommen hätte.

Vier Tage nach der Abreise des Botschaftspersonals der Weltrevolution brach in Deutschland selbst die Revolution aus. Zufall? Später sollte vor allem die politische Rechte in Deutschland von einem "Dolchstoß" in den Rücken der Heimatfront sprechen. Der deutsche Soldat an der Front habe bis zuletzt seine Pflicht erfüllt, so hieß es. Aber die Heimat sei der Front in den Rücken gefallen und habe durch revolutionäre Wühlarbeit zu Deutschlands Niederlage beigetragen. Lenin hätte dieses Szenario sicherlich gefallen – es wäre ganz in seinem Sinne gewesen. Doch war es wirklich so?

Die sowjetische Botschaft in Berlin schmuggelte nicht nur Flugblätter in ungeheurer Menge nach Deutschland, sondern auch Geld, Gold und Schmuck, den man gerade massenweise der führenden Schicht des alten Rußland abgenommen hatte. Dafür wurden, das hatte Emil Barth bestätigt, im großen Maße auch Waffen gekauft. Denn auf eigene Faust Waffen in solchen Mengen nach Deutschland zu schmuggeln, war für die Sowjets in der Regel zu gefährlich. Außerdem brauchte man diese selbst, denn in Sowjetrußland begann ein für das junge Regime Lenins und Trotzkis äußerst gefährlicher Bürgerkrieg, in der es um die Existenz ging. Wenn nicht aus Sowjetrußland, woher kamen aber dann die Waffen für die deutschen Revolutionäre, von denen Barth sprach? Wer kaufte und wer verkaufte sie? Auf diese Fragen gab es in der deutschen Geschichtsschreibung bislang keine Antwort.

Nun hatte nicht nur Sowjetrußland ein Interesse am Umsturz in Deutschland, sondern auch die Alliierten. Im Nachrichtendienst der deutschen Obersten Heeresleitung gingen seit Anfang des Jahres 1918 immer ernstere Hinweise ein, daß die Entente nicht nur versuchte, in Berlin einen politischen Umsturz herbeizuführen, sondern auch in Wien, Budapest und Sofia. Diesen Indizien ist die Geschichtsforschung bislang kaum nachgegangen.

Nicht untersucht ist bisher beispielsweise die Rolle des französischen Geheimdienstes an den Ereignissen der deutschen Revolution von 1918. Der französische Historiker Pascal Krop (Les secrets de l´espionnage français, Paris: Jean Claude Lattès) hat jetzt erstmals diese heikle Frage untersucht. Die Geschichte, die hier zu erzählen ist, reicht zurück bis in die friedlichen Tage vor Ausbruch des Weltkrieges.

In ihr spielt ein unauffälliger Mann die Hauptrolle, der dem deutschen Geheimdienst nie ins Netz ging, obwohl er einer der wichtigsten französischen Spione des Ersten Weltkrieges war. Sein Name: Joseph Crozier. Gebürtig aus Lyon, siedelte er 1913 nach Brüssel über, um sich, gerade 38jährig, der sich eben erst entwickelnden Flugzeugindustrie zu widmen und dort zu investieren.

Doch sein Geld verdiente Crozier auf einem anderen Gebiet: Während des ersten Jahrzehnts des Jahrhunderts war er ein enger Mitarbeiter des aus Deutschland stammenden und geadelten Londoner Bankiers Sir Ernest Cassel, der wiederum eng befreundet mit dem englischen König Edward VII. war. Cassel, dessen Finanzgruppe sich auch im Waffenhandel betätigte, finanzierte ebenfalls einige geheimdienstliche Geschäfte eines gewissen Basil Zaharoff, von dem noch die Rede sein wird. Geschäftsführer der Finanzgruppe von Sir Ernest Cassel war Lord Beverly. Dieser freundete sich schließlich mit Joseph Crozier an.

Am 17. August 1914, als die ersten deutschen Ulanen sich bereits Brüssel näherten, nahm Crozier den letzten Zug nach Frankreich. In Boulogne am Ärmelkanal quartierte er sich in einem kleinen Hotel ein. Wenig später stand ein britischer Pionier-Hauptmann vor seiner Tür. Der gehörte der der Waffenhändler-Abteilung von Lord Beverly in London an, für die auch er selbst gearbeitet hatte: Beverly beauftragte ihn mit dem Verkauf von 100 000 Mauser-Handfeuerwaffen aus spanischen Beständen. Schluß der Nachricht: "Eine sehr delikate und schwierige Operation, die Ihre persönliche Kontrolle erfordert!" Crozier begriff sofort. Der Käufer war Deutschland und die Bewaffnung ging an die Rebellen in Marokko. Das durfte aus Sicht der Franzosen unter keinen Umständen geschehen. Marokko war seit 1912 französisches Protektorat und strategisch von hohem Wert. Es hatte im Zuge der deutschen "Kanonenboot-Politik" mehrere internationale Krisen um das Land gegeben, die mit einer schweren diplomatischen Niederlage für das Deutsche Reich geendet hatten. Ein schmaler Nordstreifen Marokkos gehörte zum neutralen Spanien.

Absprachewidrig informierte Crozier umgehend das Hauptquartier des französischen Geheimdienstes in Paris, das "Deuxième Bureau" des französischen Generalstabs, mit dem er bisher nichts zu tun hatte. Dann schlug er über Mittelsmänner den Spaniern statt dessen vor, sie sollten ihre Mauser doch lieber an die französische Regierung verkaufen. Schließlich begab er sich nach einer Antwort des Deuxième Bureau sofort nach Paris, um den Chef der Section économique (SE), der Abteilung "Wirtschaftsspionage" des französischen Geheimdienstes, Tannery, zu treffen. Dort war man hochzufrieden mit der schnellen und effizienten Arbeit des Geheimdienst-Neulings Crozier, verpflichtete ihn kurzerhand für den Dienst im Range eines Leutnants und verpaßte ihm den Tarnnamen "Pierre Desgranges".

Diese neue Arbeitsstelle Croziers bei der Wirtschaftsspionage SE gefiel auch seinem britischen Chef, Lord Beverly. Das ließ ihn darüber hinwegsehen, daß Crozier den Vorgaben der britischen Zentrale nicht gehorcht hatte. Er eilte sofort nach Paris. Und er gab sich großzügig, doch war ein leicht drohender Unterton nicht zu überhören:

"Sie werden uns auf diesem ausgezeichneten Beobachtungsposten noch sehr nützlich werden können", meinte er. Und etwas sibyllinisch fügte er hinzu: "Zwar haben Sie einen kleinen Verrat begangen, geben Sie es zu! Aber seien Sie von jetzt an artig, Sie enfant terrible! Der Augenblick ist gefährlich, nicht nur für Ihr Land, sondern auch für Sie selbst. Ich werde Ihr Schutzengel sein. Vergessen Sie nicht, daß unser Schutz überall hinreicht. Der Krieg ist für uns ein Mittel, ein gutes Mittel, niemals eine Gefahr … Wir werden nicht den Kontakt mit Ihnen verlieren – und Sie werden sich darüber nicht zu beklagen haben. Aber es ist immer ein Geben und Nehmen, vergessen Sie das nie! Und denken Sie an die Wiedergutmachung Ihres Fehlers schon in demselben Moment, in dem sie ihn begehen. Good-bye, dear! …"

Damit war die Sache klar: Crozier arbeitete jetzt nicht mehr nur für den französischen Geheimdienst, sondern auch für die britische Hochfinanz unter dem persönlichen Schutz von Sir Ernest Cassel, einem der mächtigsten Männer des britischen Empire. Und der sollte ihn für seine kommenden Aufgaben mit nahezu unerschöpflichen Mitteln ausstatten. Ob Mitglied des französischen Dienstes oder nicht, seine tatsächlichen Auftraggeber saßen in London. Sie waren vielleicht nicht die Herren der Welt, aber doch, wie Crozier sich später ausdrücken sollte, "die Herren der Vermögen dieser Welt, die da heißen: Waffen, Gold, Öl, Eisenbahn, Schiffbau, Eisen oder Stahl usw.". Von ihnen empfing er nunmehr seine Befehle. Eine Macht, die, wie Crozier feststellen sollte, "außerordentlich geschmeidig war, auf der ganzen Welt über unzählige Fühler und über unbegrenzte Mittel verfügte, die außerhalb des Einflusses und der Kontrolle der Regierungen und der Parlamente stand, die sich gegen die offizielle Diplomatie stellte, die nicht mit den gleichen Waffen kämpfen konnte wie sie, umso mehr, als diese stets im Schatten agierte." Crozier schloß die Betrachtungen über seine Auftraggeber etwas geheimnisumwölkt: "Die höchste Fähigkeit ist nicht diejenige, die mysteriöse Kaste zu bekämpfen, sondern sie sich zu ihrem Verbündeten zu machen. Die Engländer haben es verstanden, dieses Problem zu lösen."

Crozier ging also an die Arbeit. Er gründete mehrere Handelshäuser in den neutralen Niederlanden, eines in Rotterdam, eine Seifenfabrik in Schiedam, ein Laboratorium in Nimwegen und nahe der deutschen Grenze. Und sogar in Deutschland, in Düsseldorf gründete er eine Zweigniederlassung seines Unternehmens. Düsseldorf war ein wichtiger Platz: die Stadt war der Sitz der Zentrale für Öl, Schmieröle und vor allem der "Zentralen Einkaufsgesellschaft", die für die Kriegswirtschaft auf Anregung von Albert Ballin gegründet wurde und die den ganzen militärischen Nachschub versorgte. Außerdem unterhielt Crozier ein kleines, aber wirkungsvolles Netz von Kundschaftern.

Über seine Geschäfte in Holland und Tochterunternehmen in Deutschland war der französische Geheimagent Joseph Crozier bald bestens über die deutsche Rohstoffversorgung und über die Nachschubprobleme der deutschen Streitkräfte informiert – und natürlich gab er diese Informationen weiter.

Schnell wurde er einer der wichtigen Geschäftspartner der deutschen Kriegsindustrie. Die Alliierten führten ihn offiziell auf ihrer "Schwarzen Liste", auf die jeder kam, der in irgendeiner Weise in Geschäfts-, Bank- oder Frachtbeziehungen mit dem Deutschen Reich stand. Das war ein vorzügliches Entree für intensivere Beziehungen mit der deutschen Wirtschaft. Er führte Gespräche mit führenden Vertretern der deutschen Großindustrie, besprach sich auch mit der Grauen Eminenz des deutschen Außen- und Seehandels und dem persönlichen Freund des Kaisers, dem Hamburger Reeder Al- bert Ballin, der ihn in Rotterdam besuchte.

Wirtschaftliche Verhandlungen fanden über einflußreiche Vermittler im Jahre 1915 statt, die für die Alliierten ebenso wie für ihre Feinde interessant waren. Crozier berichtet darüber: "Man bat mich um meine Mithilfe während der kritischen Periode des U-Boot-Krieges, um bei den Deutschen ihre bewegungsunfähigen Handelsschiffe anzukaufen und sie an die Alliierten weiterzuverkaufen. Die großen Finanziers der Welt trafen sich ohne Unterschiede der Nationalität im neutralen Genf und diskutierten kühl über ihre Interessen, während ihre Völker sich in den Schützengräben gegenüberstanden. Die großen Raubtiere kennen keinerlei Vaterland: dieselben Dinge geschahen umgekehrt auch auf der anderen Seite."

"In unseren Kreisen", so Crozier weiter, "war es für niemanden ein Geheimnis, daß etwa die Häuser Thyssen und Krupp Kriegsmaterial an Holland und die Schweiz lieferten, das diese guten ,Neutralen‘ dann weiterleiteten an die Regierungen der Entente. Manchmal spielte sich dieser Handel auch direkt (und ohne Umwege über Neutrale) ab." Crozier wurde seiner guten und gerechten Sache wahrscheinlich für einige Momente unsicher: "Ich sah die Verantwortlichkeiten für diesen Krieg immer genauer. … Wer waren die Verantwortlichen für diesen Krieg? Und wer waren die Verantwortlichen für die Fortsetzung dieses Krieges?" Und die waren offenbar nicht nur in Deutschland zu suchen. Doch so bedeutend, daß ihm hier Einblick verschafft wurde, war Crozier nun auch wieder nicht. Er drohte einem Zirkel zu nahe zu kommen, der lieber unter sich blieb. Man bedeutete ihm daher schnell, er solle seine Nase besser nicht in die Geschehnisse in Genf stecken. Sein Interesse für dieses Thema wurde als "übermäßig und unpassend" empfunden. Wieder hatte Crozier verstanden. Er notierte: "Man forderte mich auf, Genf und die Schweiz zu ,vergessen‘. … Ich habe gehorcht. Andere, weniger ,Artige‘, wollten widerstehen und jetzt sind sie nicht mehr. Ihr Verschwinden stand in den Zeitungen unter ,Vermischte Nachrichten‘. Sie waren schnell vergessen, aber in mir ha- ben sie stets ein Grübeln hinterlassen."

Crozier war aber als Agent inzwischen so erfolgreich, daß sein Ruhm bis in die höchsten politischen Kreise drang. Nach seiner erneuten Regierungsübernahme im Jahre 1917 rief der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau den Chef der Wirtschaftsspionage, Tannery, zu sich und empfing Crozier, nun wieder als Agenten "Pierre Desgranges". Clemenceau schüttelte ihm die Hände und rief ihm zu: "Gehen Sie schnell! Sie werden uns noch viele Dienste leisten!" Und in der Tat: als Crozier nach Rotterdam zurückging, machte er sich an seine bisher teuflischste Aufgabe, die Organisierung eines revolutionären Putsches in Deutschland.

Bereits seit Oktober 1915 hatte Agent "Desgranges" Kontakt mit linken holländischen und deutschen Gewerkschaftern. Diese Beziehung wurde angebahnt im Einvernehmen mit Hauptmann Georges Ladoux, damals beim Nachrichtendienst der Section de centralisation des renseignements (SCR) in Paris, und Oberst Wallner vom britischen Nachrichtendienst SR in Folkestone. Damals hatte Crozier diese Kontakte zunächst nicht weiterverfolgt. Doch mit der russischen Oktoberrevolution änderte sich dies. Anfang 1918 hatte Clemenceau beschlossen, auf die deutsche Unterstützung der Revolution in Rußland mit der Inszenierung einer Revolution in Deutschland zu antworten. Der Plan dazu stammte von General Boucabeille vom französischen Geheimdienstbüro in Den Haag.

Wieder ging Crozier an die Arbeit. Er frischte seine alten Kontakte mit den radikalsten Elementen der Linken in Holland auf. Und der Agent Desgranges, alias Crozier, engagierte sich ganz offen in der Bewegung zusammen mit holländischen deutschen und russischen Linkssozialisten, Spartakisten und Kommunisten. Im Gegensatz zu seinem Geheimdienstkollegen, Hauptmann Jacques Sadoul in Moskau, früher sozialistischer Parlamentsabgeordneter und enger Vertrauter Trotzkis und französischer Verbindungsoffizier zu Lenin, tat Crozier es nicht aus innerer Überzeugung, wie er notierte. Dazu war er von seiner Herkunft doch zu bürgerlich. Dennoch: er wirkte nach außen wieder einmal nach allen Seiten äußerst glaubwürdig. Wenig später stattete er Ministerpräsi-dent Cle-menceau ei-nen Bericht ab: "Die einzig wirksame Propaganda, aus dem Blickwinkel der Alliierten, muß sich auf die revolutionäre Partei gründen – also Minderheitssozialisten oder Spartakisten (Crozier meint die deutsche USPD und die damals noch bei ihr integrierten Spartakisten um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – Anm. d. Verf.) –, die die Einrichtungen des Reiches angreifen und daher ein gemeinsames Ziel mit der Entente haben: die Zerstörung des preußischen Imperialismus. Auf der anderen Seite ist sie die einzige Partei die öffentlich erklärt hat, daß es eine elsaß-lothringische Frage gibt. Ihre derzeitige Aufwärts-Entwicklung ist unbezweifelbar und ihre finanziellen Bedürfnisse machen sie zu einer leichten Beute. In jeder Stadt hat sie einen Propagandafonds, der sich "Munition für den Frieden" nennt und der von der bekannten USPD-Parteisekretärin Luise Zietz geleitet wird. Aufgrund ihres internationalen Charakters ist die Partei zugänglicher als alle anderen für die Revolutionäre aus den neutralen Ländern, deren Gefühle in der Regel pro Entente sind."

Soweit die wohl im wesentlichen zutreffende Einschätzung Croziers für Ministerpräsident Clemenceau. Die Franzosen empfanden die USPD-Parteipresse als ein zu jener Zeit, Anfang 1918, nur sehr begrenzt taugliches Propagandainstrument im Sinne der Alliierten. General Boucabeille ließ deshalb bei Crozier anfragen, was getan werden könne, um die örtlichen Partei-Organe in Berlin, Stuttgart und Bremen so umzugestalten, daß sie durch größere Summen seitens der Entente unterstützt werden könnten. Berlin war die Zentrale der Spartakisten, in Stuttgart saß Klara Zetkin, und die Bremer Gruppe der USPD stand unter dem maßgeblichen Einfluß des Deutschland-Beraters von Lenin, Karl Radek.

Die einzige wirklich wirksame Kontrolle aber wurde durch Crozier ausgeübt. Die deutsche Zweigstelle seiner Seifenfirma "Savonnerie Venus" in Düsseldorf diente ihm als Einfallstor, insofern, als er inzwischen auch Mitglied des streng geheimen revolutionären Ausschusses für Terrorismus in der USPD war. Ein Vertrauensposten, den er der Freundschaft mit den wichtigsten Kommunisten Hollands verdankte. Er hatte die vier kommunistischen Kandidaten finanziert, die prompt alle bei den niederländischen Parlamentswahlen erstmals einen Abgeordnetensitz erhielten: Wijnkoop, Kohltreck, Dr. van Ravenstijn und Kruyt. Wijnkoop, ein Vertrauter Lenins, hatte Crozier bei den Organisatoren der deutschen Revolution eingeführt, unter ihnen Wilhelm Pieck, Spartakist der ersten Stunde, Mitglied des Berliner Parteikomitees zusammen mit Karl Liebknecht und Georg Ledebour, später Führer der bewaffneten Revolution an Rhein und Ruhr und – erstes Staatsoberhaupt der DDR.

Eine Revolution brauchte aber nicht nur Zeitungen und Flugblätter, sie brauchte vor allem Waffen. Crozier besann sich wieder seiner guten Verbindungen als Waffenhändler. Es war nicht schwierig für ihn, an Waffen und Munition zu kommen, aber wie bekam man sie nach Deutschland hinein? Er verfügte über ein Agentennetz, das nicht nur höchste Chargen der USPD umfaßte, sondern auch bis in die höchsten Kreise der Berliner Gesellschaft reichte. Darüber hinaus hatte er ein Netz von Beobachtern und Zuträgern und – Schmugglern. Diese unterzog er Anfang 1918 einer intensiven Ausbildung unter dem belgischen Gardejäger Warans und zahlte ihnen dafür "ein kleines Vermögen".

Zunächst einmal mußten die avisierten Schmuggelwege mit "ungefährlichem" Gut erprobt werden. Dazu boten sich illegale Flugblätter an. Von Belgien nach Holland ging es über das Jagdrevier von Luÿksgestel; am nächsten Tag weiter – beladen mit schweren Packen – über die holländische grüne Grenze bei Nimwegen nach Deutschland. Bald darauf wagte man es auch mit Waffenlieferungen.

Bereits 1917, als die deutsche Reichsregierung den Bolschewisten in Rußland gehpolfen hatte, hatte sie sich deutscher Links-Sozialisten als Geheimkuriere bedient, die erhebliche Mengen an Waffen nach Rußland schmuggelten. Ein Teil dieser Waffen und Munition wurde jedoch bereits damals "umgeleitet" in Depots, die für den Tag X der deutschen Revolution angelegt wurden. Nun sollten Waffenlieferungen von Crozier die illegalen Waffenbestände aufstocken.

Als Waffenhändler verwandelte sich Crozier nun umgehend wieder zum Agenten des britischen Waffenhandels der Gruppe um Lord Beverly. Er sagte eine Lieferung von 5000 Mauser-Gewehren, Kaliber 7,92 Millimeter, und 500 automatischen "Parabellum"-Pistolen zu, die von den deutschen Spartakisten ordnungsgemäß bezahlt wurden – wohl mit sowjetrussischem Geld. Obwohl die Munition auf 200 Patronen pro Waffe begrenzt war, bildete allein diese Lieferung ein Gewicht von über 2000 Tonnen. Es war eine ungeheure logistische Leistung, solche Mengen illegal über die grüne Grenze zu expedieren, ohne daß irgend jemand Verdacht schöpfte.

Ende Januar 1918 trugen Croziers Revolutions-Vorbereitungen erste Früchte: In Berlin begann der erste und letzte Generalstreik in Deutschland während des Weltkriegs. 300 000 Arbeiter legten die Arbeit nieder. Es war eine äußerst gefährliche Lage für das ganze Reich. Die SPD hatte die Lage unter den Arbeitern nicht mehr im Griff. Die USPD und die Spartakisten riefen zu Streik und Revolution. Es war ein politischer Streik, der seit dem 28. Januar 1918 schwerpunktmäßig in Berlin geführt wurde. Die politische Forderung richtete sich gegen die harte deutsche Verhandlungsführung mit den Sowjets in Brest-Litowsk. Die "Forderungen" der Arbeiter waren wörtlich dieselben, wie sie General Hoffmann am Verhandlungstisch von Trotzki zu hören bekam. Mitten im Krieg war eine solche Handlungsweise juristisch gleichbedeutend mit dem Tatbestand des Hochverrats.

Natürlich war es kein Zufall, daß Joseph Crozier sich genau während dieser Tage in Berlin, dem Ausgangspunkt des Streiks, aufhielt. An eine seiner Agentinnen schrieb er: "Ich träume davon, daß ich mit der Avantgarde unserer Truppen der erste Franzose sein werde, der Berlin betritt. Nach Berlin!… Und wir sind doch bereits hier, nicht wahr?"

Zwar brach der Generalstreik kurze Zeit später zusammen. Führende, am Streik beteiligte Rädelsführer der USPD und der ihnen angeschlossenen Spartakisten wurden verhaftet: unter ihnen Wilhelm Dittmann, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

Doch schon im Frühjahr 1918 konnte der Agent Crozier in einem Brief an ein Mitglied des französischen Senats erneut frohlocken: "… Aus der Sicht der Volksbewegungen wird die Stunde der Deutschen schlagen, seien Sie sich dessen gewiß! Es gibt in der deutschen Bevölkerung eine unbestreitbare Erbitterung und die öffentliche Meinung wird eine neue deutsche Winteroffensive nicht hinnehmen. Noch vor Anbruch des Winters wird die deutsche Revolution ausbrechen, deren allererste Konsequenz der sofortige Frieden sein wird. …"

Dennoch blieb man an führenden Stellen in Paris unruhig. Insbesondere ein mittelfristiges Übergreifen kommunistischen Gedankenguts und ein Import der Revolution nach Frankreich selbst ließen Teile des Pariser Außenministeriums am Quai d’Orsay zunehmend zurückhaltender werden.

Doch als am 10. November 1918 die Revolution in Deutschland ausbrach und, wie Crozier es vorausgesehen hatte, sofort in Forderungen nach Waffenstillstand mündete, befand sich Crozier in Paris. Am selben Tag schrieb er an General Boucabeille, den Vater des französischen Plans zur deutschen Revolution:

"Mon Général!

Ich habe aufgrund der aktuellen Ereignisse, die seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen, noch nicht den Ministerpräsidenten (Clemenceau) gesehen. Statt dessen hatte ich ein langes Gespräch mit Oberst Herscher. Die Umgebung des Präsidenten ist jetzt strikt gegen jede revolutionäre Propaganda und gegen unsere Fühlungnahme mit einer solchen Umgebung. Die Geschehnisse, die sich mit einer derartigen Schnelligkeit entwickeln, beweisen, daß wir recht hatten. Die deutsche Revolution ist zu dem Zeitpunkt ausgebrochen, den wir vorhergesagt hatten, und man weiß noch nicht genau, ob sie das militärische Debakel ausgelöst hat, oder ob es umgekehrt war. Diese Revolution hat sich mit Hilfe derjenigen Personen abgespielt, die wir kennen, und so, wie wir es vorhergesagt haben, wird sie bis zu ihrem Ziel gehen.

Die Aufgabe, die die deutschen Revolutionäre für Frankreich erfüllen sollten, war vollbracht. In Deutschland hatte der Mohr seine Schuldigkeit getan. In Paris wollte man einen ähnlichen Umsturz selbstverständlich nicht. Noch mit dem 10. November 1918 ordnete daher General Boucabeille in einem Brief an Crozier auf höheren Befehl, wohl von Clemenceau, an, daß eine Zusammenarbeit mit den "Elementen, die Sie kennen", sofort einzustellen sei. So endete ein Kapitel der Geschichte, das nach dem Willen der damaligen französischen Regierung für immer vergessen werden sollte. (Schluß)