23.04.2024

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11.03.00 Das Eisenbahnunglück von Preußisch-Stargard

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 11. März 2000


Der Korridor vor 75 Jahren:
Das Eisenbahnunglück von Preußisch-Stargard

Am Morgen des 1. Mai 1925 machte die Nachricht von einem schrecklichen Bahnunglück die Runde, das sich kurz vor Mitternacht bei Preußisch Stargard im Korridor ereignet hatte. Die Passagiere waren fast alle Deutsche, viele der Opfer waren Ostpreußen.

Ostpreußen war seit 1919 durch den Korridor vom übrigen Reich abgeschnitten. Wer nach Berlin fuhr, mußte nun durch polnisches Gebiet. Auf dem Marienburger Bahnhof befand sich die deutsche Zollstelle. Dann verlief die Bahnstrecke ein kurzes Stück, rund 16 Kilometer, über Danziger Gebiet, bevor sie über die Dirschauer Weichselbrücke in den polnischen Korridor ging. Schon die Danziger Zoll- und Bahnbeamten rekrutierten sich zwar aus Danziger Staatsangehörigen, die Zollverwaltung jedoch unterstand bereits polnischer Staatshoheit. Deren Kontrolleure waren Polen.

In Dirschau wurden die Züge plombiert. Reisende aus der damaligen Zeit erzählen, daß bisweilen auch die Vorhänge zugezogen wurden. Rund hundert Kilometer ging es durch den Korridor in südwestlicher Richtung, bevor die Bahnlinie kurz hinter Konitz wieder Reichsgebiet erreichte. Über Schneidemühl und Landsberg/ Warthe ging es dann Berlin entgegen.

Erstmals werden hier polnische Dokumente veröffentlicht, die auch einen Einblick von der von gegenseitigem Mißtrauen geprägten Atmosphäre der damaligen Zeit geben.

Der erste Bericht über das Unglück stammt vom 1. Mai 1925 vom polnischen Polizeikommissar Grzybek. Er berichtete der Leitung der politischen Polizei in Thorn von den furchtbaren Geschehnissen: "In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1925 um 23.40 Uhr ist zwischen den Stationen Swaroschin und Stargard an der 403/4-Km.-Bezeichnung der deutsche Transitzug von Insterburg nach Berlin entgleist. Es haben dabei 25 Personen den Tod gefunden. In dieser Zahl enthalten ist ein polnischer Zollbeamter aus Konitz. Schwerverwundet wurden 18 Personen. Die Leichtverwundeten wurden mit dem nächsten Zug nach Deutschland gebracht, die Schwerverletzten mit einem Rettungszug nach Dirschau. Die Toten kamen in die Leichenhalle nach Stargard. Der Zug hatte neun Personenwaggons, die ersten drei wurden total zerstört und sind von dem acht Meter hohen Damm gefallen. Die Lokomotive wurde schwer beschädigt. Staatspolizei und Ärzte kamen kurz nach dem Unfall an die Stelle der Katastrophe. Der Untersuchungsbericht wird in Dirschau mit Nachdruck bearbeitet. Vorläufig wurde die Unfallursache noch nicht festgestellt. Ein verbrecherisches Attentat kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. Die (polnische) Eisenbahndirektion in Danzig wurde entsprechend benachrichtigt, und ihre Vertreter befinden sich an der Katastrophenstelle. Von diesem Vorfall bitte das Bezirksamt der Politischen Polizei, das Bezirksuntersuchungsamt und auf Antrag des Landrats auch den Woiwoden benachrichtigen. Die Toten und Verwundeten sind wahrscheinlich deutsche Staatsbürger."

Wenig später, in seinem nächsten Telefonat, steht für Polizeikommissar Grzybek die Unfallursache bereits fest:

"Im Nachgang zur vorherigen Nachricht … teile ich mit, daß die Katastrophenursache ein verbrecherisches Attentat war und von mehreren Verbrechern durchgeführt wurde. Die Verbrecher lösten die Schienen durch Abdrehen und Entfernen von vier Schrauben. Die entfernten Schrauben wurden von ihnen mitgenommen und drei von ihnen in den nahegelegenen Wald geworfen. Die Kriminalpolizei in Danzig teilte mit, daß ein Polizeihund geschickt werde, um die Spurensuche aufzunehmen."

Ein polnischer Beamter namens Stejka, der vor Ort die Untersuchungen aufgenommen hat, präzisiert: "Die Ursache des Unglücks des Transitzuges zwei Kilometer vor Stargard ist Diversion. Die bisherige Untersuchung zeigte eine Schraubenlösung. Einige Schrauben blieben auf der Stelle liegen, einige wurden in den nahen Wald geworfen. Es wurden zwei Spuren festgestellt und gesichert, solange bis der Polizeihund mit dem Auto aus Danzig eintrifft. Ein D-Zug, der 25 Minuten früher die Unglücksstelle passierte, ist glücklich durchgefahren. An Ort und Stelle sind die Eisenbahnbehörden, das Gericht und die Staatsanwaltschaft sowie die Landräte von Stargard und Dirschau, die Kommissare Grzybek und Pawlowski sowie die Kriminalpolizei aus Dirschau. Es wurde eine Durchstreifung der Umgebung angeordnet. Agenten wurden zur Untersuchung nach Danzig gesandt. … Gerade eben wurde noch die Kapsel einer Stielhandgranate gefunden, die vor dem Abfeuern oben abgeschraubt wird. Agenten sind aus Konitz gekommen. Ich bleibe hier an der Unfallstelle."

Der Stargarder Bahndirektor Jadykiewicz berichtet: "Infolge des verbrecherischen Anschlags durch das Auseinanderdrehen der Schienen ist die Lokomotive "Braukard" mit fünf Personenwaggons, unter ihnen auch der Schlafwagen des Transitzuges 907 zwischen den Stationen Swaroschin und Pr. Stargard engleist. … Die schwer- wie die leichtverwundeten Personen wurden in die Krankenhäuser nach Stargard und Dirschau gebracht. Die Ärzte, die Rettungswagen, die Vertreter des Landratsamtes, des Gerichts und der Staatspolizei sind auf der Katatrophenstelle anwesend. Die Namen der Toten werden laufend festgestellt. Mit Hilfe des Werkzeugwagens und der Handwerker aus Dirschau und Konitz werden die Trümmer beseitigt. Der Eisenbahnverkehr geht von der Station Swaroschin (zwischen Pr. Stargard und Dirschau – Anm. d. Red.) nach Stargard nur im Einbahnverkehr."

Die politische Polizei in Thorn befahl daraufhin der Kreiskommandantur der polnischen Staatspolizei in Stargard telefonisch, das Gelände zu erkunden und unter Aufsicht zu halten. In einem Bericht hieß es, die Bahnstrecke sei noch in der Nacht um 2 Uhr vom Bahnwärter Michael Schröder aus dem nahegelegenen Spengawsken kontrolliert worden. Der habe nichts festgestellt und sei im übrigen ein "bewährter und gewissenhafter Angestellter".

Erst zehn Tage später, am 11. Mai, wird die vollständige Liste der Opfer veröffentlicht. Die Zahl der Getöteten hat sich inzwischen auf 29 Personen erhöht. Vier weitere Personen waren seitdem im Dirschauer Krankenhaus gestorben. Es handelte sich um den Gutsbesitzer Aloys Scharfenort aus Braunsberg und seine Frau Annemarie, den Elbinger Magistratsbeamten Julius Maas, den Tilsiter Oberpostsekretär Artur Malwitz, den Kaufmann Artur Levin aus Saalfeld, Kreis Mohrungen, den Lehrling Herbert Brettschneider aus Elbing, Elfriede Radusch aus Elbing, Ehefrau und Kind und Kindermädchen des Dr. Gerach aus Osterode, Ruth Schumacher-Keilich aus Potsdam, den Reichswehr-Soldaten Lisaus mit Frau und Kind, den Königsberger Bibliotheksrat Theodor Krüger, den Marienburger Kaufmann Paul Helbing, Erhard Klein aus Elbing, Herbert Lau aus Heiligenbeil, Max Wollermann, Beamter aus Danzig, Emma Fischer, Meta Wichmann, Dora Goldstein, Eva Thiel, eine Frau Dahlström und schließlich den polnischen Zollbeamten aus Konitz, Jan Stiefelbein. Im Dirschauer Krankenhaus verstarben Professor Hensel aus Elbing, Dr. Neumann aus Berlin, der Fabrikbesitzer Höftmann aus Wystruc und der Kaufmann Begor Mojsche aus Riga.

Am 24. Mai schließlich wird durch die polnische Polizeibehörde in Danzig ein relativ kurzer, abschließender Untersuchungsbericht vorgelegt. Er lautet:

"Die durchgeführte Untersuchung im Raum der Freien Stadt Danzig in vielen einflußreichen Wirkungskreisen ergaben bezüglich des Attentats auf die Eisenbahngleise bei Stargard keinerlei Anzeichen und Verdachtsgründe, die auf die Spuren des Verbrechens führen konnten.

Im Umlauf befinden sich viele Versionen und Gerüchte, die aber keine Bestätigung gefunden haben. Unter den Danziger Eisenbahnern und den Danziger Kommunisten wird vermutet, daß dieser Anschlag von den deutschen Nationalisten verursacht wurde. Dieses Gerücht hat jedoch keine Bestätigung gefunden. Gleichzeitig wird von einer Wiederholung eines ähnlichen Anschlages im Korridor gemunkelt, um die Initiative zur Abschaffung des Korridors zu geben. Nach der Wahl Hindenburgs zum Präsidenten wurde die genannte Propaganda von den Nationalisten verstärkt. Die deutschen Nationalisten sind sicher, daß die Konspiration ihrer Attentäter nicht ans Tageslicht kommt und wollen den Anschlag auf die sowjetischen und polnischen Kommunisten abwälzen.

Die Danziger Behörden verhalten sich bezüglich der Katastrophe zurückhaltend und betonen: Sollten das die Kommunisten verursacht haben, dann muß die polnische Regierung radikale Schritte unternehmen, daß sich solche Unfälle in Zukunft nicht wiederholen. Zusammen mit anderen Staaten (so die Danziger Behörden) sollten Schritte unternommen werden, um die kommunistische Diversion und ihren Terror zu bekämpfen. In der Freien Stadt Danzig konnte man allerdings auch keine konkreten Angaben erhalten, die auf die Spuren der Attentäter führen konnten."

Soweit der Untersuchungsbericht. Es ist deutlich, daß man polnischerseits offensichtlich nicht ergebnisoffen ermittelt hat. Der Untersuchungsbericht spricht zwar davon, daß man Spuren auf die Attentäter nicht hat finden können. Dennoch scheint es dem Gutachter merkwürdigerweise vollkommen außer jeder Diskussion, daß es sich nur um eine "Konspiration" deutscher Nationalisten handeln könne, die alles täten, damit "ihre Attentäter nicht ans Tageslicht" kämen. Spuren, die zu polnischen oder sowjetischen Kommunisten hätten führen können, wurden dagegen offensichtlich von der polnischen Polizei nicht weiter verfolgt. Die Behauptung, "deutsche Nationalisten" hätten einen erfahrungsgemäß ausschließlich mit Deutschen besetzten Zug mit den absehbaren Folgen in die Luft gesprengt, erscheint etwas unseriös. Ein Interesse, die Verbindungen zwischen Ostpreußen und dem Reich zu sabotieren, hätte eine solche Gruppe zweifellos nicht gehabt. Die wahre Ursache des tragischen Unglücks konnte offenbar nie aufgeklärt werden. Siegmund Kindel / HBvS