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01.04.00 Die 68er "Kulturrevolution", die Frankfurter Schule und die Kritische Theorie (Teil I

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 01. April 2000


Einblicke: "Marxismus für feine Leute"
Die 68er "Kulturrevolution", die Frankfurter Schule und die Kritische Theorie (Teil I)
Von RUDOLF WILLEKE

Der bekannte Rechtsphilosoph und sozialdemokratische Justizminister der Weimarer Republik, Gustav Radbruch, hat den Satz formuliert: "Jede Idee, die der menschliche Geist erzeugt hat und den Kopf verläßt, also zur ,Sprache kommt‘, strebt danach, verwirklicht zu werden. Auf dem Wege der Verwirklichung verändert sie das Bewußtsein und die Gesellschaft."

Dieser Satz erscheint zunächst banal, denn jedermann weiß, welche gesellschaftlichen und bewußtseinsmäßigen Folgen die Ideen etwa von Jesus Christus, von Martin Luther und Immanuel Kant oder von Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Wladimir I. Lenin hatten.

Der Satz ist gleichwohl beachtenswert, wenn man bedenkt, daß die Ideen, ja das gesamte Ideengebäude der "Frankfurter Schule" bisher kaum zur Kenntnis genommen wurden, so daß sich die Kulturrevolution 1968 bis 1998 hinter dem Rücken des kollektiven Bewußtseins vollziehen konnte und die Folgen nicht der eigentlichen (letzten) Ursache zugerechnet wurden, sondern dem namenlosen "Zeitgeist", dem "Fortschritt", der "Modernisierung. Die kulturrevolutionären Veränderungen infolge der "Kritischen Theorie" der Frankfurter Schule liegen weit überwiegend im Bereich der gesellschaftlichen Institutionen, der "Umwertung der Werte", der "Umbegreifung der Begriffe" und des praktischen Verhaltens der Menschen in der Gesellschaft.

Wenngleich die Kritische Theorie längst kein allgemein anerkanntes Weltinterpretationssystem mehr ist, ist ihr Einfluß auf die Wissenschaften, auf Gesellschaft und Politik nachhaltig ("FAZ" vom 18. Juni 1999), sie ist richtungweisend für die sozialdemokratisch-ökologische Politik und letztentscheidend für die "political correctnes" in den Kommunikationsmedien der Gesellschaft und der Kirchen.

Eine philosophische Schule wie die Frankfurter Schule besteht aus der Gemeinschaft der Lehrer- und Schülergeneration, die durch gemeinsame Grundanschauungen, durch gemeinsame Forschungsmethoden und Ziele miteinander verbunden sind und die sich mit einer Idee oder mit einem Programm identifizieren.

Die Namen "Frankfurter Schule" und "Kritische Theorie" hat Max Horkheimer in den frühen 30er Jahren erfunden und genutzt , um seine Position vom dogmatischen Marxismus abzugrenzen und um zu dokumentieren, daß die "Frankfurter" einen revisionistischen Marxismus (Neomarxismus) vertreten. Dogmatisch-orthodoxer Marxismus wurde in den 30er Jahren mit KPD und Stalinismus gleichgesetzt.

Zugleich wollte Horkheimer seiner Theorie eine ganz besondere Aura, ein unverwechselbares Merkmal der qualitativen Unterscheidung von anderen Theorien, etwa der Philosophie des Deutschen Idealismus, verleihen.

Die Kritische Theorie der Frankfurter Lehrer und Schüler beinhaltet ein Denken, das in einer offenen Form der marxistischen Tradition steht und das der Abschaffung von Herrschaft (jeder Art, d. Verf.) verpflichtet ist. Für den bekannten Historiker Golo Mann, der in der amerikanischen Emigration sozusagen Hausnachbar von Horkheimer war, ist die Kritische Theorie nichts anderes als "Marxismus für feine Leute", also Intellektuelle.

Die Kritische Theorie unterscheidet sich grundlegend von traditionellen Theorien und Wissenschaften, die vom Interesse an Objektivität und Wahrheit geleitet sind. Sie ist demgegenüber vom Interesse an der Veränderung der bestehenden Gesellschaft inspiriert und aus diesem Grunde an der Hervorbringung eines bestimmten Verhaltens, d.h. "kritischen Verhaltens" interessiert.

Letzteres zeige sich in dem bewußten Widerspruch gegen das gesellschaftliche Ganze. Die "Kritik" ist prinzipielle Kritik, d.h. eine Grundhaltung der Verneinung aller Wirklichkeit und zugleich Kampf gegen das Bestehende, also gegen die bürgerliche Gesellschaft im weitesten Sinne.

Kritische Theorie will die Wirklichkeit nicht beschreiben, sie will sie verändern, sie steht damit im polemischen Widerspruch zu allen traditionellen Wissenschaften, insbesondere zur Philosophie des Deutschen Idealismus.

Damit ist schon angedeutet, daß die Gründerväter der Frankfurter Schule – Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, aber auch deren frühe Mitarbeiter, etwa der Sexualtheoretiker und Sexualpolitiker Wilhelm Reich, der evangelische Religionsphilosoph und Theologe Paul Tillich, die Psychoanalytiker Erich Fromm und Alexander Mitscherlich und der marxistische Nationalökonom und KP-Funktionär Friedrich Pollock und viele andere – keine neuen Ideen hervorbrachten oder verwirklichten. Die Väter standen vielmehr auf den Schultern der geistigen Großväter, vor allem auf Karl Marx und Sigmund Freud, bzw. der geistigen Urgroßväter Jean-Jacques Rousseau und anderer Vorkämpfer der Französischen Revolution von 1792 (nicht 1789).

Marx und Freud, beide prominente Vertreter des philosophischen Materialismus, nahmen die These Rousseaus auf, daß die "Zivilisation" das Glück des Menschen, das ihm im Naturzustand zuteil wurde, zerstört und die Sitten verdorben habe". Von Natur aus sei der Mensch gut, erst mit dem Privatbesitz, der eigentlichen Ursünde des Kapitalismus, seien Herrschaft und Unterdrückung und damit Unglück und Bosheit in die Welt gekommen.

Allein durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln könne die Herrschaft von Menschen über Menschen endgültig beendet und eine menschenwürdige Gesellschaft – das Paradies auf Erden – errichtet werden.

Die Parole "Zurück zur Natur" findet heute noch ihren Widerhall in der Technikfeindlichkeit und ökologischen Besessenheit der Grün–Alternativen.

Der marxistische Appell "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" lautet in der neomarxistischen Version "Intellektuelle aller Institutionen, emanzipiert euch!".

Während der Marxismus/Sozialismus an die ökonomisch-sozial verelendeten Proletarier appellierte und eine Arbeiterbewegung in Gang setzte, die die Basis (Produktionsverhältnisse) ändern, vielleicht sogar mit Gewalt umstürzen (revolutionieren) sollte, wendet sich der Neomarxismus der "Frankfurter" an die intellektuell und psychosozial verelendeten Subjekte im Bildungssystem, d. h. im kulturellen Überbau. Er bewirkte 1968 eine Studentenbewegung, die den kulturellen Überbau revolutionieren, d. h., eine Kulturrevolution durchführen sollte, deren Folgen Thema dieser Artikelserie sind.

Die gesamte Programmatik der Frankfurter Schule und der neu-linken Bewegung läßt sich als Kulturrevolution, als Umbau des Menschen, seiner Psyche, seines Denkens und Strebens und seines Lebens, als Umbau der Institutionen, die das menschliche Bewußtsein und Verhalten prägen, sowie als Umwälzung der gesamten Kultur und Zivilisation beschreiben.

Die Studentenrevolte von 1968 war kein Randphänomen der Gesellschaft, sondern eine wirkliche Revolution.

Da es unmöglich ist und auch nicht der Anschein erweckt werden soll, das Ideen- und Lehrgebäude der "Frankfurter", das aus mehr als 40 Büchern, 50 Aufsätzen und Tausenden von Brief- und Manuskriptseiten besteht, adäquat darstellen zu wollen, werden nur einige zentrale Thesen der Kritischen Theorie herausgegriffen. (Wenn im folgenden undifferenziert von der Frankfurter Schule gesprochen wird, ist immer einer der vier Gründer gemeint.)

Die Kritische Theorie ist nach Auffassung der "Frankfurter" eine alles umfassende, alles erklärende Theorie. Sie will sowohl Religions- als auch Gesellschaftsphilosophie, ebenso Theorie der Menschwerdung (Ontogenese) wie Moralphilosophie, Geschichts-, Kultur-, Musik- und Kommunikationstheorie sein. Sie stellt den Anspruch, eine Theorie der Wahrheit zu sein und damit die gesamte vorausgehende Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant und Hegel zu überbieten und abzulösen.

Für Horkheimer wie für Habermas steht fest, daß Gott durch die tatsächliche Geschichte, durch die modernen Naturwissenschaften (Evolutionismus/Darwinismus) sowie durch den (dogmatischen) Marxismus widerlegt ist.

Das Christentum ist für Horkheimer eine Lüge, die Wiederbelebung der heidnischen Mythologie in Deutschland während des Dritten Reiches nichts anderes als Polytheismus. Nicht Gott, sondern der Mensch sei das höchste Wesen (Feuerbach), und der Nächste sei das Volk, die Gesellschaft, die Menschengattung. Horkheimer und Adorno teilen die Auffassung, daß die entscheidenden Fragen der Metaphysik nur negativ, d. h. nur verneinend, aufhebend, beantwortet werden können, dementsprechend gebe es nur negative (bestreitende, verneinende) Theologie.

Adorno, der getaufter Jude war, ist, wie Habermas betont, völlig standhaft und unerschütterlich Atheist geblieben.

Für Habermas, vom Elternhaus her evangelischer Christ, ist Gott eine falsche Hypothese – geschichtlich überholt, wissenschaftlich widerlegt. Gott ist vielmehr, wie Ludwig Feuerbach vor ihm schon behauptete, eine Projektion des leidenden Menschen an den Himmel, also Phantasieprodukt des Menschen. Der Mensch hat sich seinen Gott geschaffen, weil er ein Bedürfnis nach ihm hatte. Nach Habermas ist das Zeitalter der Hochreligionen und die Epoche des metaphysischen Denkens vorbei. Das Christentum sei kein anerkanntes Weltinterpretationssystem mehr, die neue "wissenschaftliche Weltanschauung" – der Darwinismus/Evolutionismus – habe dem Christentum den Rang streitig gemacht, wissenschaftliche Aufklärung habe das (unaufgeklärt-mythische) Bewußtsein aufgelöst, die religiöse Welt insgesamt "entzaubert" und jede religiös begründete Ethik wie Lehmbröckchen zwischen den Fingerspitzen zerrieben. Das moderne, nach-metaphysische Denken bestreite keine bestimmten Behauptungen der Theologen oder Metaphysiker, es behaupte vielmehr deren Sinnlosigkeit. Sinnlos ist das Nachdenken über Gott deshalb, weil Gott in der Kritischen Theorie nicht real existiert, sondern nur ein Phantasieprodukt leidender Menschen ist. Theologie als Nachdenken und Reden über Gott ist dann eben nur Reden über nichts oder über menschliche Einbildungen. Die "Moderne" oder das nach-metaphysische Zeitalter sei die Epoche des Massenatheismus: die katholische Kirche sei in mehrere Konfessionen und in eine Unzahl von Denominationen zersplittert, und alle moderne Theologie erscheint als Schrumpfungsprozeß, der zur Auflösung führe, weil diese "moderne" Theologie die Unterschiede zwischen Heils- und Weltgeschichte, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Kirche und Welt, zwischen Theologie und Soziologie, zwischen Seelsorge und Psychologie, zwischen Christen und Nichtchristen, also den überlieferten Dualismus, einebne.

Mit dieser Zustandsbeschreibung von 1974 hat Habermas sogar recht behalten. Habermas hält es schließlich für gerechtfertigt (und notwendig), daß überall dort, wo in der idealistischen Philosophie "Gott" gedacht oder geschrieben wurde, "Mensch" oder "menschliche Gattung" einzusetzen sei. Damit wird Gott entthront, der Mensch bzw. die Gesellschaft dagegen werden vergöttlicht.

Wenn ein dogmatischer Marxist gefragt wird, wie ein "Sozialist" die Frage nach Gott beantworten würde, würde er mit Karl Marx antworten, der "sozialistische Mensch" sei so, daß er diese Frge nicht mehr stelle. Fortsetzung folgt