29.03.2024

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08.04.00 Schriftenreihe aus der Hauptstadt

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 08. April 2000


Schriftenreihe aus der Hauptstadt: Baltische Kulturboten in Berlin
Esten, Letten und Litauer in der Spreemetropole
Von Martin Schmidt

Das Titelbild ist gut gewählt: es zeigt die einstige Berliner Mauer mit einem Graffiti zu Estland, Lettland und Litauen, die aus dem Sowjetreich durch gestrichelte Linien hervorgehoben sind. Ein fetter roter Schriftzug "S.O.S" prangt über dem gesamten Baltikum.

Das Heft "Geschichte und Gegenwart von Esten, Letten und Litauern in Berlin" ist in einer trotz ihres durchgehenden linksideologischen Tenors beachtenswerten Reihe der Ausländerbeauftragten des Berliner Senats erschienen. Außer den Broschüren über Türken, Russen, Griechen, Georgiern, Arabern oder Iren in der deutschen Hauptstadt wurden unter der Verantwortung Barbara Johns bislang neben den Balten auch die ostmitteleuropäische Nachbarvölker der Polen und Ungarn bedacht.

Erschienen ist das Heft zu den baltischen Völkern bereits im Dezember 1998. Als Verfasser zeichnet Georg Armbrüster verantwortlich, der der interuniversitären Berliner Arbeitsgruppe "Baltische Staaten" angehört und sich am besten mit den deutsch-litauischen Beziehungen auskennt. Entsprechend fällt die inhaltliche Gewichtung aus, wobei der Autor vielfach auf die Vermittlungsfunktion des Memellandes (auch "Preußisch-Litauen" oder "Kleinlitauen" genannt) eingeht.

Nach allgemeinen Einführungen zur Geschichte des Raumes, bei denen die große politische und kulturelle Bedeutung der deutschen Oberschichten leider kaum vorkommt und die Einstufung der Esten, Letten und Litauer als "Osteuropäer" Kopfschütteln hervorruft, finden sich in den folgenden Kapiteln eine Fülle interessanter historisch-biographischer Hinweise. Dabei ist der Bogen weit gespannt: Am Anfang stehen die um 1750 vereinzelt in das aufstrebende Berlin gekommenen Kolonisten aus Livland und Kurland sowie der von national-freiheitlichen litauischen Studenten gegründete "Lelewel Fonds" (nach dem polnischen Historiker Joachim Lelewel), mit dem in den Jahren vor dem Aufstand von 1863 Waffenkäufe für die Heimat finanziert wurden.

In dieser Zeit tauchen Persönlichkeiten vom Schlage des aus Hannover stammenden Sprachforschers Dr. Georg Sauerwein auf (1831-1904). Dieser begeisterte sich nicht nur für die Sprache der Litauer, sondern wurde zu einer Schlüsselfigur der Nationalbewegung, indem er 1879 eine Delegation für einen Besuch bei Kaiser Wilhelm I. vorbereitete. Diese setzte sich für die Beibehaltung des Litauischen in den Schulen und Kirchen des Memelgebietes ein.

Zu den damaligen Aktivisten der "preußischen Litauer" zählte auch deren erster Reichstagsabgeordneter Jonas Smalakys (1835-1901). In seiner Jugend hatte er weite Teile Europas bereist und 1860 für Garibaldi und Italiens Einheit gekämpft.

Als Berlin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Ziel einer breiten Zuwanderungsbewegung aus den Ostprovinzen des Reiches wurde, kamen auch litauischstämmige Arbeiter und kleine Angestellte an die Spree. Deren Lebensgefühl und Alltag thematisierte die memelländische Autorin Leva Simonaityte (1897-1978). Beeinflußt vom Vorbild Hermann Sudermanns beschreibt sie in ihrem Roman "Vilius Karalius" das Eindringen der modernen Zivilisation in das Leben einer traditionsbewußten litauischen Familie.

Während heute nur sehr wenige Werke estnischer, lettischer und litauischer Schriftsteller in deutscher Sprache verfügbar sind – Breitenwirkung erzielt hierzulande vor allem der Este Jaan Kross – war dies in der Zwischenkriegszeit ganz anders. Namen wie die des estnischen Schriftstellers und ersten Gesandten seines Landes in Berlin, Eduard Vilde (1865-1933), oder seines Landsmannes August Gailit (1891-1960) waren den Lesern im Reich durchaus ein Begriff.

Gailit lebte längere Zeit an der Spree und gehörte gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zu den knapp 200 000 estnischen, lettischen und litauischen Flüchtlingen, die sich aus Furcht vor den Sowjets gen Westen absetzten bzw. sich als Teil der deutschen Wehrmacht zurückgezogen hatten. Von seinen humorvollen Prosawerken sind u. a. "Nippernaht und die Jahreszeiten" (Berlin 1931), "Das Lied der Freiheit" (Berlin 1938) und "Die Insel der Seehundsjäger" (Berlin 1939) in Deutsch erschienen.

Einen kleinen, aber um so rührigeren Zuwachs bekamen die baltischen Kolonien in Berlin durch die weit über tausend hohen Regierungsbeamten usw., die sich im Juni 1940 vor der zu Hause drohenden kommunistischen Verfolgung in Sicherheit brachten. Unter ihnen befand sich die schillernde Figur des Parlamentsmitbegründers sowie einstigen litauischen Militärattachés und Ministers Kazys Skirpa.

Am 17. November 1940 gründete dieser Oberst analog zu einer neu entstandenen Widerstandsorganisation in der Heimat die "Litau-ische Aktivistenfront" (LAF). Von der deutschen Heeresaufklärung unterstützt, wurde die freiheitliche Vereinigung zugleich von der Gestapo argwöhnisch beobachtet. 1944 kam Skirpa in Deutschland sogar in ein Internierungslager, ging später nach Irland und schließlich in die USA.

So wie dieser Lebensweg zahlreiche Fragen aufwirft und die Lückenhaftigkeit der Forschung andeutet, so böte auch die Biographie seines Landsmannes Algirdas Sertvytis reichlich Stoff für Romane oder Abenteuerfilme.

Armbrüster skizziert dessen Schicksal wie folgt. "Geboren war er im deutsch-litauischen Grenzgebiet, hatte das klassische Gymnasium in Palanga (dt. Polangen; Anm. d. Verf.) besucht und später nach der Fachschulausbildung für die litauische Eisenbahn gearbeitet. Wegen seiner guten Deutsch-Kenntnisse – er hatte von klein auf deutsch gesprochen – erhielt er während der deutschen Okkupation Litauens eine Anstellung als Mit- arbeiter der deutschen Eisenbahndirektion in Vilnius (Wilna; Anm. d. Verf.). Angesichts der nahenden Roten Armee und damit der Gefahr einer wiederholten sowjetischen Besetzung trat er am Ende des Zweiten Weltkrieges in die ‚Litauische Befreiungsarmee‘ (LLA) ein, die Verbindungen zur Wehrmacht herstellte.

Aufgrund dieser Kontakte wurde Sertvytis 1944 im Rahmen einer dreimonatigen Schnellschulung bei Königsberg durch die deutsche Abwehrstelle ‚Nordpol‘ ausgebildet und anschließend per Fallschirm hinter der Front in sowjetischem Gebiet abgesetzt. Hier erfüllte er im Austausch für Waffenlieferungen an die LLA fünf Monate lang militärische Aufgaben des Abwehrdienstes der Wehrmacht." Im April 1945 geriet Sertvytis dann in eine Falle des NKWD, wurde zu einer langjährigen Lagerhaft in Workuta verurteilt und erst 1961 mit dem Verbot einer Heimkehr entlassen. In Kasachstan lernte er dann seine rußlanddeutsche Frau kennen, mit der er im Oktober 1993 in die Bundesrepublik aussiedelte.

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde auch der ohnehin vielfältigen baltischen Mediengeschichte in der Reichshauptstadt – von der kommunistischen litauischen Zeitschrift "Balsas" (Die Stimme) bis zur lettischen Kunstzeitschrift "Laikmets" (Das Zeitalter) – ein weiteres, besonders spannendes Kapitel hinzugefügt.

In der Alexandrinenstraße erschienen damals die litauischen Exilorgane "Lietuviai" (3.11.44-11.4.45) und "Karys" (24.11.44-31.1.45), die noch kurz zuvor in Kaunas bzw. Wilna herausgegeben worden waren, sowie "Latviesu Balss" (Lettische Stimme) und "Eesti Sona" (Estnisches Wort).

Natürlich beleuchtet die Broschüre nicht zuletzt die jüngsten Umbrüche sowie die heutige Präsenz der baltischen Völker in Berlin. Die Gründung des "Komitees Freies Baltikum" am 14. Januar 1991 und deren Berliner Demonstration vom 19. Januar werden ebenso erwähnt wie die Vereine und Studentenorganisationen, die Hochschulbeziehungen und die Beliebtheit der Stadt bei "Au-pair"-Bewerberinnen aus dem Baltikum. Auch ein Hinweis auf die Kindheit des estnischen Präsidenten und Diplomatensohnes Lennart Meri im Berlin der 30er Jahre darf nicht fehlen.

Schon in der Einleitung stellt Armbrüster fest, daß es sich bei den Balten in Berlin um sehr kleine Gruppen handelt. Mitte 1998 waren 123 Esten, 355 Litauer und 516 Letten gemeldet, die ein "eher unscheinbares" Daein führen und die deutsche Umwelt wenig beeinflussen. Umso größer war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die durch die vorübergehend an der Spree lebenden Intellektuellen noch verstärkte Ausstrahlung der Metropole ins Baltikum. Seit der Wende von 1989/90 kann Deutschlands Haupstadt nun wieder an diese für beide Seiten wichtige Mittlerrolle zwischen Ost und West anknüpfen.

Die Reihe ist gegen eine Gebühr von 2,- DM pro Heft bei der Ausländerbeauftragten des Berliner Senats zu beziehen: Potsdamer Str. 65, 10785 Berlin, Tel.: 030/9017-2351