29.03.2024

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22.04.00 Vor 55 Jahren: Es gab kein Entrinnen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. April 2000


Vor 55 Jahren: Es gab kein Entrinnen
600 000 Ostpreußen wurden per Schiff gerettet
Von Helmut Mattke

Am 13. Januar 1945 begann die Rote Armee mit weit überlegenen Kräften ihre Großoffensive gegen die deutsche Ostfront. Wie eine Feuerwalze, ungeachtet ihrer eigenen hohen Verluste, bewegte sich der russische Angriff vorwärts. Bis zur Selbstaufopferung kämpften die deutschen Soldaten zäh und verbissen bei Schneetreiben und Temperaturen von bis zu 27 Grad unter Null. Die militärische Aussichtslosigkeit gegen diese gewaltige Übermacht stand von Anfang an fest. Die Verteidigungs- und Rückzugskämpfe hatten nur noch das Ziel, Zeit zu gewinnen, damit sich die vielen Verwundeten und Flüchtlinge vor den Unmenschlichkeiten der Russen retten konnten.

Der Evakuierungsbefehl für die Bewohner Ostpreußens wurde durch die nationalsozialistischen Behörden (Gauleiter Koch) verzögert, zum Teil zu spät oder überhaupt nicht gegeben. Unendliche Flüchtlingskolonnen versuchten sich vor den russischen Panzern zu retten. Ständig griffen sowjetische Flugzeuge mit Bomben und Bordwaffen die Trecks an. Tausende Tote, Pferdekadaver und zerschossene Fahrzeuge säumten die Fluchtwege. Am 23. Januar unterbrachen Angriffsspitzen der Roten Armee die Verbindungswege (Eisenbahn und Straße) bei Elbing. Somit war Ostpreußen eingeschlossen. Rettung gab es nur noch über die Ostsee. Die Kriegsmarine und der "Seedienst Ostpreußen" setzten alle verfügbaren Schiffe ein, um Verwundete und Flüchtlinge zu retten. Am 16. Februar gab das Oberkommando der Wehrmacht folgendes bekannt: "In Westpreußen hält der feindliche Druck zwischen Landeck und Graudenz unvermindert an. Im Verlauf der harten Abwehrkämpfe konnte der Gegner in Konitz und Tuchel eindringen. In Ostpreußen wurden bei Braunsberg und bei Zinten erneute Durchbruchversuche des Gegners nach geringem Geländegewinn vereitelt. In schweren Kämpfen wurden dort 51 Panzer vernichtet." Diesen Wehrmachtsbericht nahm ich mit großer Sorge in Kopenhagen (Dänemark) zur Kenntnis. Nach meiner zweiten Verwundung kam ich Ende Dezember 1944 zum dortigen "Wachbataillon". Hier waren wir weit abseits des grauenvollen Schicksalkampfes um Ostpreußen.

Nur fünf Kilometer von Braunsberg entfernt, in der Försterei Rossen, befand sich mein Zuhause. Meine Eltern und mein damals achtjähriger Bruder lebten dort. Mein zweiter Bruder lag schwer verwundet in einem Lazarett bei Hamburg. Die Ungewißheit über das Schicksal meiner Angehörigen, die Nachricht über die Greueltaten der Russen, die Erlebnisberichte vieler Flüchtlinge und verwundeter Soldaten, die sich nach Dänemark gerettet hatten, ließen Schreckliches befürchten.

In vielen Kasernen wurde Platz gemacht, um die Flüchtlinge aufzunehmen. So auch in unserer Kaserne. Bei jedem neuen Transport versuchte ich etwas über meine Angehörigen zu erfahren. Ich fand meine Schulfreundin Dorothea mit ihrer Mutter und ihrem Großvater in der Nachbarkaserne unter den Heimatlosen. Sie wohnten in Waltersdorf – nur sieben Kilometer von meinem Heimatort entfernt. Ihr dramatischer Fluchtbericht über das Eis des Frischen Haffs nach Pillau und dann weiter per Schiff nach Kopenhagen war für mich einfach unvorstellbar.

Mein Bataillonskommandeur, Major von Ruckteschell, gab mir eines Tages den Befehl, mit meiner Kompanie als Ehrenformation an einer Trauerfeier auf dem Heldenfriedhof bei Kopenhagen teilzunehmen. Gemeinsam mit unserem Stabsmusikzug nahmen wir Aufstellung vor 123 offenen und mit Tannengrün umsäumten Soldatengräbern mit den danebenstehenden Särgen. Mit militärischem Zeremoniell, Trauerrede, Ehrensalut und dem Lied "Ich hatt einen Kameraden" wurden die während der schweren Abwehrkämpfe in Ostpreußen verletzten und auf dem Transport oder im Lazarett verstorbenen Kameraden beigesetzt. Tiefe Trauer, Anteilnahme und Ergriffenheit bewegten mich hierbei, und ich mußte mich sehr zusammennehmen, um meine Kommandos – der Situation entsprechend – geben zu können. Noch mehrmals fanden Trauerfeiern für deutsche Soldaten statt.

Von Tag zu Tag wurde die Lage an den Fronten immer katastrophaler. Heiligenbeil fiel am 24. März, Balga am 28. März. Damit war der "Heiligenbeiler Kessel", in dem mein Zuhause lag, liquidiert. Am 10. April kapitulierte Königsberg. Die Rote Armee eroberte am 25. April Pillau, so daß von dort keine Seetransport mehr erfogen konnten. Die letzten Reste aller zerschlagenen deutschen Truppenteile versuchten sich über die Frische Nehrung zur Weichselmündung durchzuschlagen, um dann zur Halbinsel Hela überzusetzen. Als letztes großes Schiff transportierte die "Sachsenwald" noch am 2. Mai 7000 Verwundete und rund 5000 Flüchtlinge von Hela nach Dänemark. Zuletzt verließ die "Rugard"am 8. Mai mit 1500 Personen Hela. Damit waren in rund drei Monaten über 600 000 Menschen aus Ostpreußen durch den beispiellosen Einsatz der Schiffsbesatzungen gerettet worden. Insgesamt rettete man 2,5 Millionen Menschen auf dem Seeweg über die Ostsee.

Wenige Tage nachdem Ostpreußen verlorenging, eroberte die Rote Armee die Hauptstadt Berlin. Am 8. Mai kapitulierte die Deutsche Wehrmacht. Noch nie in der bisherigen Menschheitsgeschichte hat es so viel Grausamkeit, Leiden, Tragödien und Opfer gegeben. Die Versenkung der "Wilhelm Gustloff" kostete 9343 Menschen das Leben. Beim Untergag der "Goya" gab es über 6500 Tote. Eine weitere Schiffskatastrophe war die Torpedierung der "Steuben", die als Lazarettschiff mit über 3600 Verwundeten und Flüchtlingen an Bord unterging.

Von etwa 2,5 Millionen ost- preußischen Einwohnern starben 614 000. Jeder vierte Ostpreuße wurde ein Opfer von Vertreibung, Ermordung, Freitod, Hunger, Erfrierung, Krankheit und Verschleppung. Viele Tausende Frauen wurden brutal vergewaltigt. Insgesamt kamen über 2,5 Millionen Zivilpersonen aus den deutschen Ostgebieten jenseits von Oder und Neiße bei der Flucht und Vertreibung ums Leben.

Damals brach für uns eine Welt zusammen. Es war einfach unfaßbar. Die Hoffnung auf "Wunderwaffen", auf die "Vorsehung" oder auf eine Wende wie im Siebenjährigen Krieg schwand dahin. Wir wußten nicht, was uns die nächste Zeit und die Zukunft bringen würde. Nur die Tatsache, als Offizier Verantwortung für seine Leute zu tragen, gab uns die Kraft, unsere Pflicht zu erfüllen.

Erst im Frühjahr 1946 habe ich meine Angehörigen wiedergefunden. Bei der Flucht überrollten russische Panzer ihren Treck bei Danzig. Sie wurden ausgeraubt, mißhandelt, einige wurden ermordet. Alle Frauen wurden mehrmals vergewaltigt. Es gab kein Entrinnen, sie mußten dieses Leid ertragen. Bis Ende 1945 haben meine Angehörigen in Ostpreußen unter sowjetischer Besatzung gelebt. Im Sommer bekamen meine Eltern und mein kleiner Bruder Typhus. Nach glücklicher Genesung sind sie unter großen Strapazen bis in die Altmark (Kreis Salzwedel) gewandert. Dort fand man langsam zu einem erträglichen Leben zurück.

Stets sollten wir an die unzähligen Opfer des nationalsozialistischen Terrors, der grausamen Kriegsführung, des Völkermordes und der barbarischen Luftangriffe auf beiden Seiten denken. Eine Kollektivschuld allein für uns Deutsche kann es aber nicht geben.

Wenn heute im ehemaligen Jugoslawien, in Tschetschenien und noch in vielen anderen Ländern der Erde Völkermord, Krieg und Vertreibung herrschen, dann ist dieses – angesichts der Verbrechen im Zweiten Weltkrieg – einfach unverständlich. Nach so viel Leid können wir Deutschen heute dankbar auf 55 Friedensjahre blicken.