18.04.2024

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29.04.00 Erzählungen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 29. April 2000


Erzählungen

 

Nur ein Gläschen
Von HEINZ KEBESCH

Ein schöner Abend neigte sich seinem Ende entgegen. Der Altbauer Heinrich Friedberg saß auf der hölzernen Bank in der gemütlichen Veranda seines Wohnhauses und rauchte genüßlich seine Pfeife. Morgen war sein großer Tag, sein achtzigster Geburtstag, der im Kreis seiner Familie, Verwandten und Freunde gebührend gefeiert werden sollte.

Am Vorabend seines Geburtstages aber wollte er Ruhe um sich haben und mit seinen Gedanken allein sein. Erinnerungen an die vielen Jahre seines arbeitsreichen Lebens, Gedanken an die Vorfahren, die diesen preußisch-memelländischen Bauernhof im Jahre 1690 durch Fleiß, Sparsamkeit und Umsicht gegründet hatten, zogen an ihm vorüber. Auf seinem Bauernhof, den sein Sohn Heinrich vor Jahren übernommen hatte, dessen Felder, Wiesen und Weiden das Ufer des Memelstromes berührten, war er von der Großfamilie in Harmonie und Eintracht umgeben. Aber die Arbeiten auf seinem Hof, den Feldern und in den Stallungen waren immer noch, soweit seine Kräfte reichten, der Inbegriff seines Lebens geblieben. So freute er sich auf den kommenden Tag, um nach langer Zeit wieder einmal mit seinen Verwandten und Freunden zusammen sein zu können.

Am nächsten Tag hatten sich im großen Wohnzimmer zahlreiche Gäste zur Geburtstagsfeier eingefunden, die dem Jubilar herzlich gratulierten und ihm für die zukünftigen Lebensjahre Gottes Segen, gute Gesundheit und noch viel Schaffenskraft wünschten. Darunter befand sich auch der zweitälteste Sohn Paul mit seiner Frau und den beiden halberwachsenen Kindern Karl-Heinz und Irmchen. Alt und jung waren sehr vergnügt an der Kaffeetafel, und man plauderte fröhlich und angeregt miteinander. Zwischendurch reichte man den Männern einen "Weißen mit ’nem Punkt", den Frauen einen selbstgebrauten Brombeerlikör und den Kindern Himbeersaft. Sie prosteten dem Jubilar wohlwollend zu und ließen ihn hochleben.

"Wo is’ eigentlich unser Irmchen geblieben?" fragte ihre Mutter nach einer Weile und schaute sich suchend im Kreis der an der großen Geburtstagstafel sitzenden Gäste um, denn sie vermißte plötzlich ihre Tochter. Ihr Verschwinden hatte bisher noch niemand bemerkt. Alle sahen sich erstaunt und fragend an. Es trat Schweigen ein.

Langsam wandte sich der Jubilar den Anwesenden zu, nahm seine Brille ab und brach das Schweigen mit den Worten: "Ach, die wird schon nich’ weggelaufen sein. Wenn se Hunger hat, kommt se bestimmt zum Abendessen wieder. Vleicht wollt’ se auch e bißche anne frische Luft und nich’ nur bei uns Alten hucken. Weglaufen, na so was jibt es doch hier nich’!"

Die in gehobener Stimmung geführte lebhafte Unterhaltung nahm ihren Fortgang. Inzwischen war einige Zeit vergangen, aber Irmchen war immer noch nicht zurückgekehrt. Irmchens Vater blickte wiederholt seine Frau an und sagte nachdenklich: "Es is’ doch sehr merkwürdig, daß se ja nich’ wiederkommt. Wo die Marjell wohl steckt? Am besten wird sein, ich jeh’ mal vor de Tür. Vleicht seh’ ich se irgendwo!" Als er zurückkam, schaute ihn seine Frau fragend an. "Nuscht is’ zu sehen und zu hören. Ich hab’ auch paarmal gerufen. Aber keine Antwort nich’!" Die Gäste schauten nun doch einander etwas betroffen an, und man entschied sich, Irmchen zu suchen.

"Nu’ regt euch man nich’ gleich auf", meinte ruhig und gelassen der Großvater. Er stopfte sich zuerst einmal seine Pfeife, die er dann anzündete und ein paar Züge tat. "Wo soll se denn schon sein? Na gut, meinetwegen, denn man los! Wir gehen se jetzt alle suchen und werden se wohl irgendwo finden. Verteilt euch man in alle Richtungen!"

Einige Gäste beschritten den schmalen, hin und wieder von Kopfweiden begrenzten Kiesweg, der sich bis zum Ufer des Memelstromes hinzog, andere wiederum gingen zum nahen Birkenwäldchen. In der Scheune und in den Stallungen suchte man ebenfalls. Wiederholt rief man nach ihr, eine Antwort aber kam nicht. Nun war man doch beunruhigt, zumal die "Suchtrupps" ebenfalls ohne Erfolg zurückkehrten.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. In der Ferne zogen die ersten Nebelschwaden über Wiesen und Felder. Mit ängstlicher Stimme meinte Irmchens Mutter zu ihrem von der Suche zurückgekehrten Mann: "Nu wird es ja bald dunkel, Vater, und unser Irmchen ist immer noch nich’ da. Hoffentlich hat se sich nich’ verlaufen?" – "Aber wo, das nich’, die kennt doch alles hier. Mach’ dir man nich’ solch’ Sorgen", versuchte er seine Frau zu beruhigen.

Plötzlich rief Karl-Heinz mit lauter Stimme: "Hier is’ se, hier is’ se, ich hab’ se!" Onkel Fritz, der sich gerade erneut auf Suche zur Wagenremise begeben wollte, blieb wie angewurzelt stehen, als er das hörte und rief: "Na, wo is’ se denn?" – "Se huckt in unserem Auto auf der Rückbank und schläft!" Karl-Heinz öffnete die Tür des Autos, das zwischen dem Wohnhaus und der Gartenpforte stand. Irmchen erwachte und verließ schlaftrunken und etwas benommen den Wagen. "Du", sagte Karl-Heinz, "wir haben uns um dich schon große Sorgen gemacht. Alle haben dich jesucht." – "Das ist mir aber sehr peinlich. Ich wollt’ mich im Auto nur ein wenig ausruhen, und da muß ich doch eingeschlafen sein. Nein, so was, und das jerade an Opas Geburtstag. Daß mir das auch passieren mußte. Was denken nu’ wohl alle von mir?"

"Ach, komm schon. So schlimm is’ das nu’ wieder auch nich’", versuchte Karl-Heinz seine Schwester aufzumuntern. Sie gingen über den geräumigen Hof, an den alten Lindenbäumen und dem Ziehbrunnen vorbei und gelangten zum Wohnhaus. Schüchtern blieb Irmchen in der Wohnzimmertür stehen.

"Nu‘ komm man rein, setz dich zu mir und erzähl uns mal, was eigentlich los war", forderte sie der Großvater freundlich, verschmitzt lächelnd auf. Irmchen nahm bei ihrem Großvater Platz und antwortete leise zögernd: "Ich wurd’ doch plötzlich so müd’, Opa, und hab’ mich in unser Auto gesetzt. Da bin ich doch eingeschlafen." – "Na so was, Irmchen", meinte schmunzelnd der Großvater. "Hast vleicht etwas zuviel getrunken? Warst deshalb müd’ geworden?" – "Nei, nei, Opa, es war von Omchens Brombeerlikör doch nur ein Gläschen", antwortete Irmchen etwas verlegen. "Na, wer weiß, wer weiß, auf einem Bein steht man ja nich’, sagt man doch hier bei uns in Ostpreußen."

"Bestimmt, Opa, es war wirklich nur ein Gläschen", beteuerte Irmchen noch einmal. "Ja, ja, Irmchen, war doch nur Spaß. Ich glaub’ dir ja, warst doch immer eine brave Tochter und ein liebes, gutes Mädchen", antwortete lächelnd der Großvater seiner Enkelin und nahm sie in seine Arme.

 

 

Vertraute Worte
Von ANNEMARIE MEIER-BEHRENDT

Ich horche auf, verhalte den Schritt, bleibe zögernd stehen und gebe mir den Anschein, auf jemanden zu warten. Das waren doch soeben vertraute Laute, bekannte, selten gehörte Worte?

Wirklich, ich habe mich nicht getäuscht. Auf dem Straßenpflaster hockt eine alte Dame vor einem kleinen Jungen und wischt, reibt und rubbelt an ihm herum. "Nu halt aber auch mal still!" fordert sie den Gnos in unverkennbarem Tonfall auf, während dieser an der zerknautschten, tropfenden Eistüte zu lecken versucht. "Hast dich all ordentlich benuschelt! Was bin ich aber auch so dammlich und geb deinem Gegnaue nach einem Eis nach!" Energisch fährt die alte Dame dem Kleinen durch das Gesichtchen, welches dieser weinerlich verzieht.

Schwerfällig und stöhnend erhebt sich die Frau, wirft das verschmierte Taschentuch in den nächsten Abfallkorb und meint, indem sie den kleinen Lorbaß an die Hand nimmt: "Nu fang man nich noch an zu plinsen, nu ist auch schon alles egal, bekommst ein neues Eis." Einträchtig steuern Groß und Klein die nächste Eisdiele an.

Und ich? Im Weitergehen gniddere ich vor mich hin, lächle so, daß ein entgegenkommender Mensch glauben mag, daß ich wahrscheinlich so "e Happche dammlich bin". Doch freue ich mich über diese unverhoffte kleine Begegnung und ostpreußische Laute vernommen zu haben. Und letztendlich leckerts auch mich nach einem Eis.

 

 

Rudern auf dem Pregel
Von FRIEDRICH BORCHERT

Eine Stunde Fahrt in ihren schlanken Booten, die sie mit weitausholenden Schlägen der Ruder gegen den gemächlich dahinströmenden Fluß angetrieben hatten, lag hinter ihnen. Als die Stadt mit ihrem Häusermeer, den Brücken, Stegen und Dalben am Ufer nun als Silhouette mit feinem Rauchschleier dem Horizont zuwanderte, da glitten sie an dem flachen Flußufer entlang, das mit Schilf und Kalmus eingefaßt war, und an dem streckenweise Flöße aus großen Baumstämmen lagen.

Auf den feuchten, satten Wiesen bewegten sich kaum merklich große Rinderherden. Da und dort lag flach ins Grün geduckt ein Bauernhof oder eine Holländerei. Einmal mußten sie in ihrer zügigen Fahrt innehalten, um einer tiefliegenden, langsamen Fähre nicht den Weg abzuschneiden, die Jungvieh auf die fetten Weiden der langgestreckten Insel zwischen beiden Flußarmen hinüberschaffte.

Auf der nördlichen Flußseite hatte sich kurz vor dem Ziel die Landschaft verändert. Es waren Hügelränder über zwanzig Meter hoch emporgewachsen, die bis dicht an das Flußufer herantraten und das Steilufer vom niedrigen Standpunkt der Ruderer noch schroffer erscheinen ließen.

Kaum waren die Boote vorsichtig auf den kiesigen Strand aufgelaufen und von den jungen Leuten noch ein Stück hinaufgezogen worden, da schritten die Ruderer schon den steilen Pfad bis zum Rand des Hochufers empor. Von dem parkartig gestalteten Arnauer Friedhof mit schönen, alten Bäumen hat man einen weiten, köstlichen Blick auf das Pregeltal mit seinen fast parallel verlaufenden silbernen Flußbändern.

Am südlichen Uferrand des Alten Pregels erkennt man im flimmernden Grün von Büschen und Bäumen einzelne Häuser mit ziegelroten Dächern, den stolzen Turm des Kraussener Gutshauses, daneben den altersgrauen Kirchturm von Neuendorf und ganz im Westen weiß aufleuchtend das Gutshaus von Jerusalem. Daneben verschwimmen in der bläulichen Ferne die Häuser und Türme der großen Stadt Königsberg.

Bei dem weiten Blick über das breite Flußtal gewinnt man den Eindruck, daß es wohl für den Pregel erheblich zu groß geraten ist. Auch wenn sich der Fluß hier im Unterlauf mit seinen beiden Armen, dem Neuen und dem Alten Pregel – auch als den Samländischen und den Natangischen bezeichnet – recht breit macht, so bleibt doch im Urstromtal viel Platz für Wiesen und Sümpfe, für abgeschnittene alte Flußstücke und für einige Seen und Teiche. Beide Flußarme sind an mehreren Stellen miteinander verbunden, so auch hier bei Arnau durch das sogenannte Mägdeloch. Erst in Königsberg am Kneiphof vereinigen sie sich endgültig und legen die kurze Strecke bis zum Frischen Haff gemeinsam zurück.

Der Aussichtspunkt auf dem Arnauer Hochufer, von dem aus wir Ruderer und über viele Jahre auch Königsberger Ausflügler den Blick über das weite Pregeltal genossen, wird von einer der schönsten Dorfkirchen aus der Ordenszeit beherrscht. Hier entstand in den Jahren 1320/40 die gotische Wallfahrtskirche mit ihren mittelalterlichen Fresken.

Aber das interessierte uns junge Ruderer damals nicht so sehr. Wir wählten Arnau als Ziel, weil es im richtigen Abstand von etwa zehn Kilometern von unserem Clubhaus lag und sich deshalb für kurze Ruderfahrten anbot. Auf den geraden Flußstücken des Pregels trainierten wir lange vor den Ruderregatten im Vierer oder im Achter.

In dem kleinen Ausflugslokal am Uferhang trafen sich die Ruderer der Königsberger Vereine. Natürlich warfen wir auch manchen verstohlenen Blick auf die Besatzungen der Mädchenboote und entdeckten die eine oder andere aus der Ferne "Angehimmelte". Auf der Rückfahrt machten wir häufig an den im Uferbereich liegenden Holzflößen aus dicken Baumstämmen fest. Sie nahmen ihren Weg auf den Flüssen von den waldreichen masurischen Forsten zu den Königsberger Sägewerken. Es war ein Spaß für die Jungen, über die tief im Wasser liegenden Stämme zu laufen und von Baumstamm zu Baumstamm zu springen, ohne sich die Füße naß zu machen. Die langen Floßreihen eigneten sich auch gut als Absprungbasis für das Schwimmen im sauberen Wasser des Flusses.

Es war eine schöne, unbeschwerte Jugendzeit, damals im heimatlichen Ostpreußen.